Die Nachtmahr Wunschträume
seinen Satz zu vergessen. »Fragt man in einer Gruppe nicht, ob noch einer etwas möchte?«
»Welche Gruppe? Ich sehe hier nur mich.« Ich zuckte mit den Schultern und drehte mich wieder um. Wer mich ignorierte, konnte mich auch getrost weiter ignorieren, wenn er durch mich einen Vorteil hätte haben können.
»Bringst du mir einen Hot Dog mit?« Paul gab trotzdem nicht auf.
»Mit Zwiebeln, Ketchup und Mayo?«
»Ja.«
»Nein.« Ich drehte mich zu ihm um, lächelte und nickte in Richtung Ende der Schlange. Zu meinem inneren Amüsement war sie inzwischen um mehrere Meter und zirka zehn Schüler nach hinten gewachsen.
»Kein Wunder, dass David mit dir Schluss gemacht hat«, meinte Paul, während er sich umdrehte. Einen Moment lang war ich tatsächlich sprachlos. Etwas, was mir wirklich selten passierte. Dann nickte ich anerkennend. Manchmal musste man auch seinen Gegnern einen Punkt gönnen können. Außerdem war ich jetzt an der Reihe und konnte mir einen Zuckerflash antrinken, bevor Paul auch nur in die Nähe eines »Heißen Hundes« kam.
Mit einem seltsamen Gefühl der Genugtuung schlenderte ich in die Richtung weiter, in der die anderen gegangen waren. Zwischendurch nickte ich einigen der jüngeren Kinder zu, für die ich eine Art Schulheld geworden war. Spätestens seit meinen offenen Streitereien mit den beliebtesten Kids der Schule (aka David, Jonah, Elijah und Jessica), war ich zumindest in den Augen der nicht so beliebten Schüler und der Außenseiter ein Vorbild geworden. Fand ich ganz niedlich. Ich und ein Vorbild!
Schließlich schloss ich zu Daria auf, die gerade dabei war, sich mit deutschen Schokoriegeln in die Herzen ihrer Mitschüler zu kaufen.
»Wie hast du die denn eingeschmuggelt?«, meinte ich, mir den letzten Riegel sichernd.
»Im Gegensatz zu dir saß ich nicht umsonst in »Saint Blocks««, lachte meine beste Freundin. Im Gegensatz zu mir hatte sie es dort auch gar nicht so schrecklich gefunden. Auf dem Internat hatte sie außerdem verdammt viel gelernt. Autoknacken zum Beispiel, Taschendiebstähle und andere kleinere Gaunereien. Ihre frühzeitige Entlassung hatte sie einzig Meg zu verdanken. Mit Hilfe ihrer Beziehungen hatte sie sie in einem Sozialprogramm untergebracht und es sogar geschafft, dass sie auf meine High School ging. Dafür konnte ich ihr eigentlich gar nicht dankbar genug sein. Böse Stieftante hin oder her. Aus einer spontanen Laune heraus umarmte ich Daria. Einen Moment lang wirkte Daria perplex, dann entspannte sie sich.
»Womit habe ich denn das verdient?«
Ich blinzelte. Verwirrt. Ich war niemand, der andere umarmte, Laune hin, Laune her. Nicht einmal, wenn ich meine Tage hatte. Außerdem war der Rückblick auf die schönen Tage mit ihr einem Traum verdammt nahe gekommen – einem Tagtraum.
Mich umblickend registrierte ich, dass David, Elijah und Jonah anderweitig beschäftigt waren und es kein Zeichen dafür gab, dass irgendeine andere Person meinen Kurztraum ausgelöst hatte. Nur der Pfleger mit dem seltsamen, schwarzen Anzug, der war wieder da. Mitten im tief gelegenen Löwengehege lud er das Essen des Tages ab: verschiedene Batzen Fleisch in unterschiedlich großen Eiswürfeln.
»Die Fütterung hatte ich mir spannender vorgestellt.« Rebecka lehnte sich an die Mauer, hinter der ein künstlicher Fluss für eine weitere Absperrung sorgte.
Ich verdrehte die Augen. Und hätte ich nicht so sehr auf den seltsamen Pfleger geachtet, hätte ich die Bewegung in seiner Nähe vermutlich nicht gesehen. »Oh verdammt!«
Ich erstarrte innerlich und äußerlich. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Shit!« Davids Fluch brach den Bann, unter den ich gefallen war. Wenn er es auch sah, musste es wahr sein.
Doch es sah so falsch aus, so irreal, wie Paul in einem rosa Tutu mit einem Regenschirm und mit Ballettschuhen auf einem Drahtseil über das Löwengehege balancierte. Seltsamerweise war mein erster bewusster Gedanke: Wo kommt denn das Drahtseil her?
Zum Glück war mein Körper auch ohne meinen Verstand in der Lage zu handeln, so dass ich fast zeitgleich mit David am Seil ankam.
»Was tust du da?«, fauchte er.
»Was tust du da?«, gab ich genauso zurück.
Einen Augenblick lang funkelten wir einander an. Dann gab er nach. »Ich gehe hoch und hol Paul da runter.«
»Er sieht nicht so aus, als wolle er freiwillig mitkommen.«
Inzwischen konnte man die Rufe und Aufforderungen der anderen hören. Unter die Stimmen der Schüler hatten sich auch einige der Lehrer gemischt.
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