Die Nachtmahr Wunschträume
Ich glaubte sogar Talbot aus dem kakophonischen Lärm heraushören zu können. Ebenso eine näherkommende Sirene. Aber vielleicht war das auch nur reines Wunschdenken.
»Ich werde meinen Freund nicht ins Löwengehege stürzen lassen.«
»Er sieht nicht aus, als wenn er stürzt.«
»Sah Justus vermutlich vorher auch nicht.«
Touché. Wo er recht hatte, hatte er recht. Ich nickte. »Ich komme mit!« Wegen Davids ungläubigem Blick fühlte ich mich genötigt zu sagen: »Du lässt nicht zu, dass Paul runterfällt – ich lasse nicht zu, dass
du
runterfällst.«
Davids Unentschlossenheit hielt eine Sekunde, dann schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht, zu dem er einfach kein Recht mehr hatte. Aber es war der falsche Zeitpunkt, ihn darauf hinzuweisen. Absolut. Außerdem war er schon auf dem Seil, bevor ich etwas sagen, oder es mir doch noch anders überlegen konnte. Vorsichtig folgte ich ihm.
Während das Balancieren bei Paul leicht und einfach wirkte, hatte ich deutlich mehr Probleme. Zum Beispiel hatte ich vorher nicht gewusst, dass ein Drahtseil verdammt dünn sein konnte. Und es schien mit jedem Schritt noch dünner zu werden. Von der verdammten Höhe einmal ganz abgesehen. Aber das machte ja nichts. Wenn mich der Fall nicht umbringen würde, würden es die Löwen sicher gerne tun. Sie waren ja eh an ein Mittagsessen-Entertainment-Programm gewöhnt.
Ich kniete mich hin, als das Seil bedenklich schwankte und hielt mich mit beiden Händen fest. David ging derweil entschlossen weiter auf Paul zu. Den strahlenden, gut gelaunten Paul, der die Gefahr, in der er sich befand, gar nicht zu bemerken schien. Sein Blick war irgendwie ... verträumt und ich fragte mich, ob es an seinem Hot Dog lag. Vielleicht war eine der Zutaten abgelaufen gewesen? Oder Tante Meg hatte hier ihren Nebenjob als Köchin. Würde einiges erklären.
Als mir bewusst wurde, dass sich mich mit den bescheuerten Gedanken nur versuchte vom Wesentlichen abzulenken, zog ich mich am Seil voran und folgte David. Er redete ununterbrochen auf Paul ein, doch der schien ihn weder zu hören, noch zu registrieren und hätte glatt versucht, durch ihn durch zu laufen, wenn David ihn nicht gepackt hätte. Doch es gelang ihm nicht, seinen Best Buddy zurückdrängen, zum anderen Ende des Seils. Paul hatte eindeutig einen Gewichtsvorteil – und er wollte in unsere Richtung.
Das Seil begann zu schwanken, als die beiden miteinander rangen und nur durch Glück gelang es David nicht nach unten zu fallen, sondern auf Pauls andere Seite zu wechseln, so dass wir ihn auf dem Seil umzingelt hatten.
»Hinsetzen!«, befahl ich und zum Glück hörte David einmal in seinem Leben auf mich. Mit einem Ruck löste er sich aus Pauls erneuter Umklammerung und setzte sich so, dass ich mir zwar um seine zukünftigen Kinder Sorgen machte, aber immerhin nicht mehr um sein Leben. Gemeinsam gelang es uns, Paul soweit fest zu halten, dass die Helfer – die Tierpfleger, die die Bedrohung von unten in ihren Stall schafften und die Feuerwehr – uns von dem Drahtseil pflücken konnten. Unverletzt und in Ordnung. Zumindest zwei von dreien. Bei Paul, der nahezu augenblicklich in einen Krankenwagen verfrachtet wurde, war ich mir nicht sicher. Auf jeden Fall war mir die Lust auf Zoo nun gründlich und endlich auch durch einen ganz logischen Grund vergangen.
Der Jeep hielt neben mir, als wir auf dem Weg zum Mittagspausentreffpunkt waren. Die anderen, vor allem Jessica und Astrid, beäugten den Wagen neugierig, gingen aber weiter und schenkten den Seerobben letztendlich mehr Aufmerksamkeit.
Anders als ich. Als das Fahrerfenster nach unten gekurbelt wurde, wusste ich nicht, ob ich vor Neugierde platzen, vor Panik weglaufen oder einfach mein Pokerface aufsetzen sollte. Ich entschied mich für
stumm der Dinge harren
. Zumindest, bis ich Klaus Gesicht sah. Oder zumindest das, was nicht von Bart überwuchert war. Er wirkte wütend. Sehr, sehr wütend.
»Steig ein!«, befahl er kurz angebunden.
Mein Zögern schien ihn noch wütender zu machen, denn das nächste »Steig ein!« war noch unfreundlicher. Noch mehr Befehl.
»Oder was?«, fauchte ich, obwohl ich wusste, dass eine Konfrontation oder eine Herausforderung unglaublich dämlich war. Aber ich konnte einfach nicht anders. Mussten meine Gene sein – oder die Hormone.
Mein Stiefvater starrte mich an. Ohne zu blinzeln. Ungläubig, aber da war noch was anderes. Eine Emotion, die ich nicht deuten konnte.
»Oder trag die Konsequenzen«, meinte
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