Die Nachtmahr Wunschträume
hinterher Abbitte leisten. So kletterte ich hinauf bis zum Balkon und nutzte die offene Glastür, um Jessicas Zimmer zu betreten.
Sie schlief friedlich und wieder Erwarten befand sich weder ein Tag- noch ein Nachtmahr in ihrem Zimmer. Es war alles so harmlos, friedlich und idyllisch, dass sich selbst Walt Disney im Grab umgedreht und Barbie Selbstmord begangen hätte.
So leise ich konnte, setzte ich mich auf den Bürodrehstuhl an ihrem Schreibtisch und positionierte mich so, dass ich eine Wand im Rücken hatte. Dann konzentrierte ich mich. Sekunden später schreckte die Brünette aus ihrem eventuell gespielten Schlaf und dem echten Albtraum auf und blickte sich verstört, mit weit aufgerissenen Augen, in ihrem Zimmer um. Offenbar hatte sie tatsächlich nicht mitbekommen, dass ich inzwischen anwesend war, denn ihr Gesichtsausdruck wechselte von ängstlich zu panisch.
»Ich bin halb Nachtmahr, schon vergessen?«, meinte ich betont lässig.
Mein Opfer schluckte und plötzliche Unsicherheit flackerte in ihrem Blick. Hatte ich es doch gewusst: Sie war eingeweiht – auch darin, dass ich wusste, wer oder besser was ich war.
»Weiß dein Vater, dass du für Team Jonah spielst?«
»Es gibt kein Team Jonah«, behauptete Jessica, doch ihre Stimme betrog sie sträflich. Liebe. Sie lässt einen manchmal seltsame Dinge tun. Sogar vergessen, dass der andere ja eigentlich der Feind war, den man weder kennen, noch sprechen noch sonstwassen sollte. Und dass sie ihn sonstwasste, wusste ich seitdem sie mich an meinem zehnten Geburtstag gemeinsam mit ihm in das unterirdische Höllenloch – aka Abwasserkanal – gesteckt hatte, in dem ich fast ertrunken war. Wie gesagt, später hatte sich das ganze als ein Jonah-Test herausgestellt und als eine Art magisch getarnter Wohnung, aber ob Jessica davon gewusst hatte?
Trotzdem tat sie mir leid. Zu gut kannte ich die Situation, in der sie steckte: ein weiblicher Tagmahr, der einen männlichen Nachtmahr liebte. Eine Zwickmühle. Und in der sollte nun wirklich niemand stecken. Das sagte ich ihr auch.
Sekundenlang starrte sie mich sprachlos an und die Emotionen in ihrem Gesicht variierten von Verwirrung, Ungläubigkeit bis hin zu Wut.
»Du hast gut reden. Es geht ja immer um dich. Immer um Liz. Liz hier, Liz da. Liz hat das gemacht. Liz jenes …« Doktor Slaters Tochter hatte Tränen in den Augen als sie mich anklagend musterte.
Ich schüttelte den Kopf. »Es geht ihm nicht um mich. Ging es nie.«
»Doch. Jonah hat sich dagegen gewehrt, aber er liebt dich.«
»Nein, er glaubt, er würde es, aber das tut er nicht. Ich erkenne Liebe, wenn ich sie sehe.« Auch wenn sie Jonahs Marionette war, so konnte ich doch ihre Gründe nachvollziehen, ihre Eifersucht und ihre Hoffnung, Jonah doch noch zu gefallen – aufzufallen.
Jessica sah mich an und jetzt las ich dasselbe Bedauern, was ich für sie empfand in ihrem Blick. »David?«, riet sie.
Ich nickte. Ja, David hatte ich geliebt.
»Warum?« Sie stellte nur diese Frage, aber in dem Wort war soviel mehr versteckt. Eine ganze Geschichte, Erklärungen, Verständnisversuche.
Ich zuckte mit den Achseln. Ich verstand es ja selbst nicht. Nicht wirklich. Nichts von David Handlungen ergab für mich einen Sinn. »Er will mich an seinem Geburtstag outen.«
Die Empörung auf Jessicas Gesicht war ehrlich. »Wenn man jemanden liebt …«
Sie beendete den Satz nicht, aber ich meinte: »Genau!«
Wir sahen uns in einem Moment des tiefen Verständnisses an. Es war seltsam mit dem Feind hier zu sitzen, in ihrem Zimmer, schutzlos und bei Nacht. Derselbe Gedanke schien ihr ebenfalls gekommen zu sein, denn sie lachte plötzlich leise.
»Merkwürdig, dass ausgerechnet wir beide so eine Unterhaltung führen, oder?«, erkundigte sie sich.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ehrlich? Ich habe in letzter Zeit seltsamere Sachen erlebt.«
Sie grinste mich an und wieder spürte ich einen Moment des Verständnisses zwischen uns.
»Seit wann weißt du eigentlich, dass Jonah ein Nachtmahr ist?«, erkundigte ich mich.
»Seit meinem dreizehnten Geburtstag. Wir haben hier gefeiert und er ist zum ersten und letzten Mal dabeigewesen … wir haben Flaschendrehen gespielt und als er mich geküsst hat … küssen musste … da habe ich es gewusst.«
»Und warum hast du ihn nie verraten?«
Sie seufzte leise. »Glaub mir, ich habe oft darüber nachgedacht. Am Anfang nicht. Da war es aufregend und anders, aber als du wiedergekommen bist … jedes Mal wenn ich wütend auf ihn
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