Die Nadel.
einen
dunkelgestreiften Anzug, und seine schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert –
jedenfalls hatten sie danach ausgesehen, bevor er in den Regen hinausgegangen
war. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, nicht einmal jedes Jahr, daß er eine
Privataudienz bei Churchill hatte.
Ein Berufssoldat wäre nervös gewesen, wenn er
seinem Oberbefehlshaber so schlechte Nachrichten hätte überbringen müssen. Nicht so
Godliman, denn ein hervorragender Historiker hat von Soldaten und Politikern nichts zu
befürchten, es sei denn, daß seine Einstellung zur Geschichte bei weitem radikaler
gewesen wäre, als es bei Godliman der Fall war. Nervös war er somit nicht, aber
beunruhigt. Äußerst beunruhigt.
Er dachte an all die Mühe, die Planung, die
Sorgfalt, das Geld und die Arbeitskraft, die darauf verwendet worden waren, eine
Geisterarmee – the First United States Army Group in Ostengland – zu schaffen: die
vierhundert Landungsboote, die dichtgedrängt in den Häfen und Flußmündungen lagen und
nur aus Segeltuch, Brettern und darunter treibenden Ölfässern bestanden; die mühsam
hergestellten aufblasbaren Nachbildungen von Panzern, Geschützen, Lastwagen,
Schützenpanzern und sogar Munitionslagern; die getürkten Klagen in den Leserbriefen der
örtlichen Zeitungen über den Verfall der guten Sitten, seitdem Tausende von
amerikanischen Soldaten in der Gegend stationiert worden waren; das falsche Öldock in
Dover, das von dem bekanntesten britischen Architekten entworfen und – aus Kartons und
alten Abflußrohren – von Handwerkern aufgebaut worden war, die man sich aus Filmstudios
geborgt hatte; die sorgfältig gefälschten Berichte, die ?umgedrehte? deutsche Agenten
nach Hamburg durchgegeben hatten; und das unaufhörliche Geplauder im Radio, das von
Berufsschreiberlingen ersonnen und einzig und allein für die deutschen Abhörposten
gesendet wurde. Darunter befanden sich einmalige Meldungen wie die folgende: »Das 5th
Queen’s Royal Regiment meldet, daß sich, vermutlichunerlaubterweise,
Zivilistinnen im Gepäckwagen befinden. Was sollen wir mit ihnen machen – sie nach Calais
mitnehmen?«
Keine Frage, man hatte eine Menge geleistet. Alle Anzeichen deuteten
darauf hin, daß die Deutschen wirklich darauf hereingefallen waren. Und jetzt flog das
sorgfältig inszenierte Täuschungsmanöver womöglich auf wegen eines einzigen Spions –
eines Spions, der Godliman entkommen war. Was natürlich der Grund war, weshalb man ihn
heute herkommandiert hatte.
Mit kurzen trippelnden Schritten ging er über das
Pflaster von Westminster zu dem schmalen Eingang von No. 2, Great George Street. Der
bewaffnete Posten neben dem Wall aus Sandsäcken prüfte seinen Passierschein und winkte
ihn durch. Godliman durchquerte die Halle und stieg die Treppe zu Churchills unterirdischem
Hauptquartier hinunter.
Es war, als ginge man auf einem Schlachtschiff unter
Deck. Der Befehlsbunker war durch eine vier Fuß starke Decke aus Stahlbeton vor Bomben
geschützt, verfügte über eiserne Türen, die an Schiffsschotten erinnerten, und
Dachstützen aus alten Spanten. Als Godliman den Kartenraum betrat, verließ ein Schwarm
jüngerer Leute mit ernsten Gesichtern das Konferenzzimmer dahinter. Ein Adjutant folgte
ihnen wenig später und entdeckte Godliman.
»Sie sind sehr pünktlich, Sir«, sagte
der Adjutant. »Sie werden erwartet, gehen Sie hinein!«
Godliman betrat das kleine,
bequem eingerichtete Konferenzzimmer. Auf dem Fußboden lagen Teppiche, und ein Portrait
des Königs hing an der Wand. Ein elektrischer Ventilator verteilte den Tabakrauch
gleichmäßig im Raum. Churchill saß am Kopf eines alten spiegelglatten Tisches, in dessen
Mitte die Statuette eines Fauns stand – das Symbol von Churchills eigener Scheineinheit,
der London Controlling Section.
Godliman entschied sich, nicht zu salutieren.
»Setzen Sie sich, Professor«, sagte Churchill.
Godliman fiel plötzlich auf,
daß Churchill nicht sehr groß war – aber er saß da wie ein großer Mann: mit
hochgezogenenSchultern, die Ellbogen auf die Armlehnen seines Stuhls
gestützt, das Kinn gesenkt, die Beine gespreizt. Statt seiner berühmten Luftschutzwart-
Kombination trug er die kurze schwarze Jacke und die gestreifte graue Hose eines Anwalts,
dazu eine gepunktete blaue Fliege und ein glänzendweißes Hemd. Trotz seiner untersetzten
Gestalt und seines Bauches waren seine
Weitere Kostenlose Bücher