Die Nadel.
Finger zart und dünn. Sein Gesicht war rosig wie
das eines Babys. In der einen Hand hielt er einen Füllfederhalter, in der anderen eine
Zigarre, und auf dem Tisch stand neben den Papieren ein Glas, in dem so etwas wie Whisky zu
sein schien.
Er machte Anmerkungen am Rand eines maschinengeschriebenen Berichtes
und murmelte beim Kritzeln gelegentlich vor sich hin. Godliman empfand nicht die geringste
Scheu vor dem großen Mann. Als Politiker des Friedens war Churchill seiner Meinung nach
eine Katastrophe gewesen. Jetzt im Krieg bewies er jedoch die Qualitäten eines großen
Anführers, und deswegen respektierte Godliman ihn auch. (Jahre später stritt Churchill
bescheiden ab, daß er der britische Löwe gewesen sei. Er habe nur die Ehre gehabt,
brüllen zu dürfen. Godliman glaubte, daß diese Selbsteinschätzung in etwa stimmte.)
Churchill blickte jäh auf und fragte: »Es besteht also kein Zweifel, daß dieser
verdammte Spion herausgefunden hat, was wir vorhaben?«
»Nicht der geringste,
Sir«, antwortete Godliman.
»Sie meinen, daß er entkommen ist?«
»Wir
haben ihn bis nach Aberdeen gejagt. Es ist fast sicher, daß er von dort aus vor zwei
Nächten mit einem gestohlenen Boot hinausfuhr – vermutlich zu einem Treffpunkt in der
Nordsee. Er kann aber nicht weit gekommen sein, als der Sturm losbrach. Vielleicht hat er
das U-Boot vor Ausbruch des Sturms getroffen, aber das ist unwahrscheinlich. Aller
Voraussicht nach ist er ertrunken. Es tut mit leid, daß wir Ihnen nichts Genaueres
berichten können.«
»Mir auch«, sagte Churchill. Plötzlich wirkte er verärgert,
wenn auch nicht wegen Godliman. Er stand auf, ging hinüber zuder Uhr an
der Wand und starrte gebannt auf die Inschrift: Victoria R. I., Ministry of Works,
1889. Dann begann er, am Tisch entlang auf und ab zu schreiten und vor sich hin zu murmeln,
als habe er Godlimans Anwesenheit vergessen. Godliman konnte jedes Wort verstehen und war
überrascht. Der große Mann flüsterte: »Diese untersetzte, leicht vornübergebeugte
Gestalt schreitet auf und ab und scheint sich plötzlich nur noch ihrer eigenen Gedanken
bewußt zu sein . . . « Es mutete an, als folge Churchill einem Hollywood-Drehbuch, das
er gleichzeitig verfaßte.
Die Vorstellung endete so jäh, wie sie begonnen
hatte. Wenn Churchill wußte, daß er sich exzentrisch verhalten hatte, so ließ er es sich
nicht anmerken. Er setzte sich, übergab Godliman ein Bündel Papiere und sagte: »Das war
die deutsche Truppenstärke in der letzten Woche.«
Godliman las:
Ostfront:
122
Infanteriedivisionen
25
Panzerdivisionen
17
sonstige Divisionen
Italien und Balkan:
37
Infanteriedivisionen
9
Panzerdivisionen
4
sonstige Divisionen
Westfront:
64
Infanteriedivisionen
12
Panzerdivisionen
12
sonstige Divisionen
Reich:
3
Infanteriedivisionen
1
Panzerdivision
4
sonstige Divisionen
»Von diesen zwölf Panzerdivisionen im Westen
steht nur eine einzige an der Küste der Normandie«, erklärte Churchill. »Diegroßen SS-Divisionen Das Reich und Adolf Hitler stehen bei
Toulouse beziehungsweise Brüssel. Eine Verlegung scheint nicht geplant. Was sagt Ihnen das
alles, Professor?«
»Bei der Täuschung des Feindes und der Verschleierung unserer
eigentlichen Absichten sind wir sehr erfolgreich gewesen«, erwiderte Godliman und erkannte
plötzlich, welches Vertrauen Churchill damit in ihn setzte. Bis zu diesem Augenblick war
die Normandie ihm gegenüber nie erwähnt worden, weder von seinem Onkel Colonel Terry noch
von irgend jemandem sonst, obwohl er aus der vorgetäuschten Stoßrichtung, die auf Calais
ging, wohl entsprechende Schlüsse gezogen hatte. Natürlich kannte er das Datum der
Invasion – D-Day – immer noch nicht, und er wollte es auch gar nicht
wissen.
»Völlig!« bellte Churchill. »Sie sind verwirrt und unsicher, und selbst
mit den Vermutungen, die der Wahrheit noch am nächsten kommen, liegen sie weit
daneben. Und trotzdem!« Er machte eine Pause, um die Wirkung des Satzes zu erhöhen. »Und
trotz alledem heißt es . . . « Er nahm ein weiteres Stück Papier vom Tisch und las laut
vor: »?Unsere Aussichten, den Brückenkopf zu halten, besonders wenn die Deutschen
Verstärkung heranführen, stehen fünfzig zu fünfzig.?«
Er legte seine Zigarre
hin, und seine Stimme wurde ganz leise. »Die gesamte militärische und wirtschaftliche
Macht der Englisch sprechenden Welt – der größten Zivilisation seit dem
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