Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
Vom Netzwerk:
Finger zart und dünn. Sein Gesicht war rosig wie
     das eines Babys. In der einen Hand hielt er einen Füllfederhalter, in der anderen eine
     Zigarre, und auf dem Tisch stand neben den Papieren ein Glas, in dem so etwas wie Whisky zu
     sein schien.
    Er machte Anmerkungen am Rand eines maschinengeschriebenen Berichtes
     und murmelte beim Kritzeln gelegentlich vor sich hin. Godliman empfand nicht die geringste
     Scheu vor dem großen Mann. Als Politiker des Friedens war Churchill seiner Meinung nach
     eine Katastrophe gewesen. Jetzt im Krieg bewies er jedoch die Qualitäten eines großen
     Anführers, und deswegen respektierte Godliman ihn auch. (Jahre später stritt Churchill
     bescheiden ab, daß er der britische Löwe gewesen sei. Er habe nur die Ehre gehabt,
     brüllen zu dürfen. Godliman glaubte, daß diese Selbsteinschätzung in etwa stimmte.)
    Churchill blickte jäh auf und fragte: »Es besteht also kein Zweifel, daß dieser
     verdammte Spion herausgefunden hat, was wir vorhaben?«
    »Nicht der geringste,
     Sir«, antwortete Godliman.
    »Sie meinen, daß er entkommen ist?«
    »Wir
     haben ihn bis nach Aberdeen gejagt. Es ist fast sicher, daß er von dort aus vor zwei
     Nächten mit einem gestohlenen Boot hinausfuhr – vermutlich zu einem Treffpunkt in der
     Nordsee. Er kann aber nicht weit gekommen sein, als der Sturm losbrach. Vielleicht hat er
     das U-Boot vor Ausbruch des Sturms getroffen, aber das ist unwahrscheinlich. Aller
     Voraussicht nach ist er ertrunken. Es tut mit leid, daß wir Ihnen nichts Genaueres
     berichten können.«
    »Mir auch«, sagte Churchill. Plötzlich wirkte er verärgert,
     wenn auch nicht wegen Godliman. Er stand auf, ging hinüber zuder Uhr an
     der Wand und starrte gebannt auf die Inschrift: Victoria R. I., Ministry of Works,
     1889. Dann begann er, am Tisch entlang auf und ab zu schreiten und vor sich hin zu murmeln,
     als habe er Godlimans Anwesenheit vergessen. Godliman konnte jedes Wort verstehen und war
     überrascht. Der große Mann flüsterte: »Diese untersetzte, leicht vornübergebeugte
     Gestalt schreitet auf und ab und scheint sich plötzlich nur noch ihrer eigenen Gedanken
     bewußt zu sein . . . « Es mutete an, als folge Churchill einem Hollywood-Drehbuch, das
     er gleichzeitig verfaßte.
    Die Vorstellung endete so jäh, wie sie begonnen
     hatte. Wenn Churchill wußte, daß er sich exzentrisch verhalten hatte, so ließ er es sich
     nicht anmerken. Er setzte sich, übergab Godliman ein Bündel Papiere und sagte: »Das war
     die deutsche Truppenstärke in der letzten Woche.«
    Godliman las:
Ostfront:
122
Infanteriedivisionen
25
Panzerdivisionen
17
sonstige Divisionen

Italien und Balkan:
37
Infanteriedivisionen
9
Panzerdivisionen
4
sonstige Divisionen

Westfront:
64
Infanteriedivisionen
12
Panzerdivisionen
12
sonstige Divisionen

Reich:
3
Infanteriedivisionen
1
Panzerdivision
4
sonstige Divisionen
    »Von diesen zwölf Panzerdivisionen im Westen
     steht nur eine einzige an der Küste der Normandie«, erklärte Churchill. »Diegroßen SS-Divisionen Das Reich und Adolf Hitler stehen bei
     Toulouse beziehungsweise Brüssel. Eine Verlegung scheint nicht geplant. Was sagt Ihnen das
     alles, Professor?«
    »Bei der Täuschung des Feindes und der Verschleierung unserer
     eigentlichen Absichten sind wir sehr erfolgreich gewesen«, erwiderte Godliman und erkannte
     plötzlich, welches Vertrauen Churchill damit in ihn setzte. Bis zu diesem Augenblick war
     die Normandie ihm gegenüber nie erwähnt worden, weder von seinem Onkel Colonel Terry noch
     von irgend jemandem sonst, obwohl er aus der vorgetäuschten Stoßrichtung, die auf Calais
     ging, wohl entsprechende Schlüsse gezogen hatte. Natürlich kannte er das Datum der
     Invasion – D-Day – immer noch nicht, und er wollte es auch gar nicht
     wissen.
    »Völlig!« bellte Churchill. »Sie sind verwirrt und unsicher, und selbst
     mit den Vermutungen, die der Wahrheit noch am nächsten kommen, liegen sie weit
     daneben. Und trotzdem!« Er machte eine Pause, um die Wirkung des Satzes zu erhöhen. »Und
     trotz alledem heißt es . . . « Er nahm ein weiteres Stück Papier vom Tisch und las laut
     vor: »?Unsere Aussichten, den Brückenkopf zu halten, besonders wenn die Deutschen
     Verstärkung heranführen, stehen fünfzig zu fünfzig.?«
    Er legte seine Zigarre
     hin, und seine Stimme wurde ganz leise. »Die gesamte militärische und wirtschaftliche
     Macht der Englisch sprechenden Welt – der größten Zivilisation seit dem

Weitere Kostenlose Bücher