Die Nadel.
gab es noch die Doppelagenten, doch ihr
Wert war in Wirklichkeit weit geringer, als es sich der Geheimdienst erhofft hatte. Zwar
hatten Funksprüche, welche die Abwehr an diese umgedrehten Spione gesandt hatte, von der
Ankunft mehrerer neuer Agenten in England berichtet und dazu beigetragen, eine schon
länger im Lande lebende Spionin zu entlarven: Mrs. Matilda Krafft aus Bornemouth, die mit
der Post Geld an Snow geschickt hatte und danach ins Holloway-Gefängnis gesteckt worden
war. Aber auch über die Doppelagenten war es nicht möglich gewesen, die Identität oder
den Standort jener unauffälligen und tüchtigen professionellen Spione aufzudecken, die
für einen Geheimdienst am wertvollsten sind. Niemand bezweifelte, daß es sie gab. Dafür
waren Anhaltspunkte vorhanden: Jemand mußte zum Beispiel Snows Funkgerät aus Deutschland
herübergebracht und in der Gepäckaufbewahrung von Victoria Station für ihn hinterlegt
haben. Doch entweder die Abwehr oder die Spione selbst waren zu vorsichtig, um durch
Kontaktaufnahme mit den Doppelagenten aufzufliegen.
Jedenfalls standen auch diese
Anhaltspunkte in Bloggs’ Kartei.
Andere Quellen wurden zur Zeit erschlossen:
Wissenschaftler im Dienst der Regierung waren dabei, die Methoden der trigonometrischen
Netzlegung (der Funkpeilung von Sendern) zu verbessern; und MI6 versuchte, das Agentennetz
in Europa wiederaufzubauen, das in der Flutwelle von Hitlers Armeen untergegangen war.
Was darüber an kärglichen Erkenntnissen vorlag, hatte ebenfalls seinen Weg in
Bloggs’ Kartei gefunden.
»Es kann einen manchmal zur Raserei treiben», sagte er
zu Godliman. »Schauen Sie sich das an.«
Er entnahm der Kartei einen langen
Funkspruch über britischePläne zur Entsendung einer
Expeditionsstreitmacht nach Finnland. »Das wurde Anfang des Jahres abgefangen. Eine
tadellose Information. Man versuchte gerade, den Mann zu orten, als er anscheinend ohne
Grund mittendrin abbrach – vielleicht wurde er gestört. Einige Minuten später fing er
erneut an, aber er hatte schon wieder aufgehört zu senden, bevor unsere Jungs ihn anpeilen
konnten.«
»Was soll das – ?Grüße an Willi??« fragte Godliman.
»Ja, das ist wichtig«, sagte Bloggs. Er begann sich zu ereifern. »Hier ist ein Teil
einer anderen Meldung, noch gar nicht lange her. Sehen Sie: ?Grüße an Willi.? Diesmal
wurde ihm geantwortet. Er wird als ?die Nadel? bezeichnet. Der Bursche ist ein
Profi. Schauen Sie sich seine Funksprüche an: knapp, sparsam, aber detailliert und völlig
unmißverständlich.«
Godliman studierte das Fragment der zweiten Nachricht. »Es
scheint sich um die Wirkung der Bombenangriffe zu handeln.«
»Er muß sich im East
End umgetan haben. Ein Profi.«
»Was wissen wir sonst noch über ihn?«
Bloggs’ Gesicht verlor schlagartig den Ausdruck jugendlichen Eifers. »Das ist leider
alles.«
»Sein Codename ist ?die Nadel?; er verabschiedet sich mit ?Grüße
an Willi?; er hat gute Informationen – und das ist alles?«
»Tja, leider.«
Godliman saß auf der Schreibtischkante und starrte aus dem Fenster. An der Mauer des
gegenüber liegenden Gebäudes konnte er unter einem reichverzierten Fenstersims das Nest
einer Mauerschwalbe erkennen.
»Haben wir bei diesem Kenntnisstand irgendwelche
Aussichten, ihn zu fassen?«
Bloggs hob die Schultern. »So gut wie keine.«
ERSTER TEIL – KAPITEL 5
as Wort »öde« muß für
Orte wie diesen erfunden worden sein. Die Insel ist ein J-förmiger Felsbrocken, der sich
mürrisch aus der Nordsee erhebt. Auf der Karte gleicht sie der oberen Hälfte eines
zerbrochenen Spazierstocks; sie verläuft parallel zu den Breitengraden; der gebogene Griff
weist nach Aberdeen, der zerbrochene, zerklüftete Stumpf zeigt drohend auf das ferne
Dänemark. Die Insel ist zehn Meilen lang.
An ihren Rändern ragen die Klippen
großenteils schroff aus dem kalten Meer. Kein lieblicher Strand schmeichelt den
Wellen. Erbittert über diese Grobheit, hämmern die Wellen in ohnmächtigem Zorn auf den
Felsen ein – ein zehntausend Jahre währender Wutanfall, den die Insel ungestraft
mißachtet.
In der Biegung des J ist das Meer ruhiger, denn dort hat es sich selbst
einen angenehmeren Zugang geschaffen. Seine Gezeiten haben so viel Sand und Tang, Treibholz
und Kieselsteine und Muschelschalen in die Krümmung geworfen, daß dort nun zwischen dem
Fuß der Klippen und dem Rand des Wassers eine
Weitere Kostenlose Bücher