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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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Sichel entstanden ist – mehr oder weniger
     ein Strand.
    Jeden Sommer lassen die Pflanzen auf der Spitze der Klippen eine
     Handvoll Samen auf den Strand fallen, so wie ein reicher Mann Bettlern ein paar Groschen
     zuwirft. Wenn der Winter milde ist und der Frühling nicht zu spät kommt, gelingt es
     einigen Samen, auf dem Boden Halt zu finden und Wurzeln zu treiben. Aber sie haben nie
     genug Kraft, um selbst zu blühen und ihre eigenen Samen zu verbreiten. Die Vegetation des
     Strandes hängt also von Jahr zu Jahr von Almosen ab.
    Auf dem eigentlichen Land, das
     durch die Klippen dem Zugriff des Meeres entzogen ist, wächst und vermehrt sich
     Grünzeug. Die Vegetation besteht vor allem aus einer dürftigen Grasnarbe, die gerade gut
     genug ist, um die wenigen knochigen Schafe zu ernähren, aber fest genug, um die Bodenkrume
     auf den Felsen der Insel zu verankern. Ein paar Dornensträucherdienen
     den Kaninchen als Behausung, und eine mutige Gruppe von Koniferen steht am windgeschützten
     Hang des Hügels am Ostende.
    Das höher gelegene Land wird von Heidekraut
     beherrscht. Alle paar Jahre steckt der Mann – ja, es gibt hier einen Mann – die Heide
     in Brand, so daß Gras wächst und die Schafe auch hier grasen können. Nach ein oder zwei
     Jahren kommt das Heidekraut jedoch wieder – Gott weiß, woher – und vertreibt die
     Schafe, bis der Mann es wieder abbrennt.
    Die Kaninchen sind hier, weil sie hier
     geboren wurden, die Schafe sind hier, weil man sie hierhergebracht hat, der Mann ist hier,
     um sich um die Schafe zu kümmern, doch die Vögel sind hier, weil es ihnen gefällt. Es
     gibt Hunderttausende von ihnen: langbeinige Strandpieper, die piep piep piep pfeifen, während sie losfliegen, und pe-pe-pe-pe , wenn sie im Sturzflug sind
     wie eine Spitfire, die aus der Sonne heraus eine Messerschmidt angreift; Wiesenknarren, die
     der Mann selten zu Gesicht bekommt, von deren Anwesenheit er aber weiß, da ihr Krächzen
     ihn nachts wachhält; Raben, Aaskrähen, Dreizehenmöwen und zahllose Seemöwen; dazu ein
     Paar Goldadler, auf die der Mann schießt, wenn er sie sieht, denn er weiß , daß
     sie lebende Lämmer schlagen und sich nicht mit Kadavern begnügen – da können ihm
     Naturforscher und Biologen aus Edinburgh erzählen, was sie wollen.
    Der
     beständigste Besucher der Insel ist der Wind. Er kommt meist aus Nordost, von wirklich kalten Orten, wo es Fjorde, Gletscher und Eisberge gibt. Oft bringt er Schnee und
     peitschenden Regen und kalten, kalten Nebel als unwillkommene Geschenke mit. Manchmal kommt
     er aber auch mit leeren Händen, nur um einen Höllenlärm zu machen: Er heult und brüllt,
     reißt Sträucher aus, knickt Bäume und peitscht den ungezügelten Ozean zu neuen
     Ausbrüchen schaumgesprenkelter Wut auf. Unermüdlich ist er, dieser Wind, und das ist sein
     Fehler. Wenn er nur hie und da käme, könnte er die Insel überraschen und wirkliche
     Schäden anrichten. Da er aber immer nur heult und bläst, hat sich die Inselauf ihn eingestellt. Die Pflanzen graben sich mit ihren Wurzeln tief in
     das Erdreich ein, die Kaninchen verstecken sich im untersten Dickicht, die Bäume wachsen
     mit bereits gekrümmtem Stamm empor, um den Peitschenhieben des Windes zu trotzen, die
     Vögel nisten auf windgeschützten Felsvorsprüngen, und das Haus des Mannes ist niedrig
     und fest gemauert, erbaut mit dem Geschick, das von alters her mit dem Wind umzugehen
     versteht.
    Dieses Haus besteht aus großen grauen Steinen und grauen Schieferplatten,
     grau wie die Farbe des Meeres. Es hat kleine Fenster, dicht schließende Türen und einen
     gemauerten Schornstein. Es steht oben auf dem Hügel am Ostende der Insel, nicht weit von
     dem zersplitterten Stumpf des zerbrochenen Spazierstocks. Es krönt den Hügel und trotzt
     Wind und Regen, nicht aus Übermut, sondern damit der Mann nach den Schafen sehen kann.
    Ein weiteres, ähnliches Haus steht zehn Meilen entfernt am gegenüberliegenden Ende der
     Insel in einer Umgebung, die mehr oder weniger ein Strand ist. Vor einiger Zeit wohnte hier
     noch ein Mann. Er glaubte, alles besser zu wissen als die Insel; deshalb wollte er Hafer
     und Kartoffeln anbauen und ein paar Kühe halten. Er kämpfte drei Jahre mit dem Wind, der
     Kälte und dem Boden, bevor er seinen Irrtum eingestand. Als er gegangen war, wollte
     niemand sein Haus haben.
    Die Insel ist unnachgiebig. Nur unnachgiebige Dinge können
     hier überleben: harte Felsen, anspruchsloses Gras,

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