Die Nadel.
einem halben Tag – bedeuten.
»Nur bis ich
angezogen bin«, antwortete Lucy. Sie hängte das Handtuch an eine Stange und wandte sich
zur Tür.
Der Fremde stand in der Tür und betrachtete sie.
Sie starrten
einander an. Seltsamerweise hatte sie nicht die geringste Angst. Es lag daran, wie er sie
anschaute: In seiner Miene lag keine Drohung, keine Geilheit, kein Grinsen, keine Gier. Er
blickte weder auf ihre Scham noch auf ihre Brüste, sondernin ihr
Gesicht – direkt in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick, ein wenig verblüfft, aber
nicht verlegen. Ganz entfernt wunderte sie sich, warum sie nicht zu kreischen anfing, sich
nicht mit den Händen bedeckte und nicht die Tür vor ihm zuschlug.
Schließlich
erschien doch etwas in seinen Augen. Vielleicht bildete Lucy es sich nur ein, aber sie sah
Bewunderung, einen schwachen Funken von Heiterkeit und eine Spur von Trauer. Dann war der
Bann gebrochen. Er wandte sich ab, ging zurück in sein Zimmer und schloß die Tür. Einen
Moment später hörte Lucy, wie die Federung knarrte. Er hatte sich wieder ins Bett
gelegt.
Ohne jeden Grund hatte sie ein entsetzlich schlechtes Gewissen.
VIERTER TEIL – KAPITEL 20
nzwischen hatte Percival
Godliman alle Hebel in Bewegung gesetzt
Jeder Polizist im Vereinigten Königreich
besaß einen Abzug der Photographie von Faber, und etwa die Hälfte von ihnen war
hauptamtlich damit beschäftigt, ihn aufzuspüren. In den Städten durchsuchten sie Hotels
und Pensionen, Eisenbahn- und Busbahnhöfe, Lokale und Einkaufszentren, dazu die Brücken,
Gewölbe und Bombengrundstücke, wo sich Obdachlose aufhielten. Auf dem Lande suchten sie
in Scheunen und Silos, in leeren Hütten und Schloßruinen, auf Lichtungen, in Dickichten
und Kornfeldern. Sie zeigten Fahrkartenverkäufern, Tankwarten, Fährbesatzungen und
Zöllnern die Photographie. Alle Häfen und Flugplätze wurden überwacht; an jedem
Paßkontrollschalter hing das Bild hinter dem Anschlagbrett.
Die Polizei glaubte,
nach einem gewöhnlichen Mörder zu suchen. Der Wachtmeister auf der Straße wußte, daß
der abgebildete Mann in London zwei Menschen mit einem Messer getötet hatte. Höhere
Beamte wußten etwas mehr: nämlich daß einem der Morde ein Vergewaltigungsversuch
vorangegangen war, daß es für den zweiten anscheinend kein Motiv gab und daß der dritte
– von dem ihre Männer nichts erfahren sollten – die Folge eines unerklärlichen, aber
tödlichen Angriffs auf einen Soldaten im Zug von Euston nach Liverpool war. Nur die
Polizeidirektoren und ein paar Beamte von Scotland Yard waren darüber im Bilde, daß der
Soldat zeitweilig dem MI5 zugeteilt gewesen war und alle Morde mit der nationalen
Sicherheit zu tun hatten.
Auch die Journalisten glaubten, daß es sich um die
übliche Fahndung nach einem Mörder handle. Am Tage nachdem Godliman die Einzelheiten
bekanntgegeben hatte, brachten die meisten Zeitungen die Geschichte in ihren
Spätausgaben; die Morgenblätter für Schottland, Nordirland und Norwales hatten sie noch
nicht, veröffentlichten aber am nächsten Tag eine Kurzfassung.Das
Opfer von Stockwell wurde als Arbeiter bezeichnet, hatte einen falschen Namen erhalten, und
man hatte nur vage angedeutet, aus welcher Londoner Gegend es stammte. In Godlimans
Pressemitteilung wurde dieser Mord mit dem Tode von Mrs. Una Garden im Jahre 1940 in
Verbindung gebracht, der Zusammenhang blieb aber unklar. Als Mordwaffe wurde ein Stilett
angegeben.
Die beiden Zeitungen in Liverpool erfuhren sehr rasch von der Leiche im
Zug; bei beiden kam man auf den Gedanken, daß der Londoner Stilettmörder verantwortlich
sein könne. Beide baten die Polizei von Liverpool um Auskunft. Die Herausgeber der
Zeitungen wurden vom Polizeichef der Stadt angerufen. Keiner druckte die Geschichte.
Insgesamt nahm man 157 hochgewachsene, dunkelhaarige Männer fest, weil man sie für
Faber hielt. Alle bis auf 29 von ihnen waren in der Lage zu beweisen, daß sie die Morde
auf keinen Fall begangen haben konnten. Angehörige des MI5 verhörten die 29. Von ihnen
konnten 27 Eltern, Verwandte und Nachbarn als Zeugen nennen, die bestätigten, daß sie in
Großbritannien geboren und schon in den zwanziger Jahre dort gelebt hatten, als Faber noch
in Deutschland gewesen war.
Die beiden anderen wurden nach London gebracht und noch
einmal vernommen, diesmal von Godliman. Beide waren Junggesellen, die allein lebten, keine
Weitere Kostenlose Bücher