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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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soll’s«, brummte David. »Schafe
     müssen bei jedem Wetter versorgt werden.«
    »Wohin willst du?«
    »Rüber zu
     Tom. Ich fahre im Jeep hin.«
    »Darf ich mit?« fragte Jo.
    »Heute nicht«,
     erwiderte Lucy. »Es ist zu naß und zu kalt.«
    »Aber ich mag den Mann nicht.«
    Lucy lächelte. »Sei nicht albern. Er wird uns nichts tun. Er ist so krank, daß er
     sich kaum rühren kann.«
    »Wie heißt er?«
    »Das wissen wir nicht. Er hat
     mit seinem Boot Schiffbruch erlitten, und wir müssen uns um ihn kümmern, bis er wieder
     gesund ist und aufs Festland zurückkehren kann. Er ist sehr nett.«
    »Ist er mein
     Onkel?«
    »Nur ein Fremder, Jo. Iß auf.«
    Jo setzte ein enttäuschtes
     Gesicht auf. Er hatte einmal einen Onkel getroffen. In seiner Vorstellung waren Onkel
     Leute, die Bonbons verteilten, was ihm gefiel, und Geld, womit er nichts anfangen
     konnte.
    David beendete das Frühstück und zog seinen Regenmantel an. Das war ein
     zeltförmiges Kleidungsstück, mit Ärmeln und einer Öffnung für seinen Kopf, das nicht
     nur ihn, sondern auch den größten Teil des Rollstuhls bedeckte. Er setzte einen Südwe-
     ster auf und band ihn unter dem Kinn fest. Dann küßte er Jo und verabschiedete sich von
     Lucy.
    Ein oder zwei Minuten später hörte sie, wie der Jeep ansprang. Sie ging ans
     Fenster, um zuzusehen, wie David in denRegen hinausfuhr. Die
     Hinterräder des Wagens rutschten im Schlamm. Er würde sich in acht nehmen müssen.
    Lucy wandte sich Jo zu. Er sagte: »Das ist ein Hund.« Er hatte auf der Tischdecke eine
     Figur aus Haferbrei und Milch fabriziert.
    Lucy gab ihm einen Klaps auf die
     Hand. »Was für eine Schweinerei!« Das Gesicht des Jungen nahm einen grimmigen,
     beleidigten Ausdruck an. Lucy dachte, wie sehr er seinem Vater ähnelte. Sie hatten die
     gleiche dunkle Haut und das gleiche fast schwarze Haar, und beide hatten eine Art, sich
     abzukapseln, wenn sie verärgert waren. Aber Jo lachte auch viel – wenigstens etwas, das
     er von Lucys Familie geerbt hatte, Gott sei Dank.
    Jo hielt ihren nachdenklichen
     Blick für Zorn, und er sagte: »’s tut mir leid.«
    Lucy machte ihn am
     Küchenausguß wieder sauber, räumte das Geschirr weg und dachte über den Fremden nach,
     der oben lag. Da die unmittelbare Gefahr vorüber war und sie wußte, daß er nicht sterben
     würde, brannte sie vor Neugierde, Genaueres über ihn zu erfahren. Wer war er? Woher kam
     er? Was hatte er während des Sturmes draußen zu suchen gehabt? Besaß er eine Familie?
     Wieso hatte er die Kleidung eines Arbeiters, die Hände eines Büroangestellten und den
     Akzent der Gegend um London? Es war alles ziemlich aufregend.
    Ihr kam der Gedanke,
     daß sie sein plötzliches Auftauchen nicht einfach so hingenommen hätte, wenn sie
     anderswo lebte. Er könnte doch ein Deserteur, ein Verbrecher oder sogar ein entflohener
     Kriegsgefangener sein. Doch auf der Insel vergaß man, daß andere Menschen nicht nur
     Gesellschaft, sondern auch Gefahr bedeuten konnten. Es war so schön, ein neues Gesicht zu
     sehen, daß es undankbar schien, Mißtrauen zu hegen. Vielleicht war sie eher als jeder
     andere dazu bereit, einen attraktiven Mann willkommen zu heißen . . . Sie verdrängte
     diesen Gedanken wieder.
    Unsinn! Er war so erschöpft und krank, daß er auf keinen
     Fall jemanden bedrohen konnte. Auch auf dem Festland hätte sichniemand
     weigern können, ihn, durchnäßt und bewußtlos wie er war, bei sich aufzunehmen. Wenn er
     sich besser fühlte, konnten sie ihn immer noch ausfragen. Sollte seine Erklärung, wie es
     ihn hierher verschlagen hatte, nicht einleuchtend sein, konnte man dem Festland von Tom aus
     Bescheid geben.
    Nachdem sie abgewaschen hatte, schlich sie nach oben, um nach dem
     Fremden zu sehen. Er schlief mit dem Gesicht zur Tür, und seine Augen öffneten sich
     sofort, als sie ins Zimmer schaute. Wieder blitzte für den Bruchteil einer Sekunde Furcht
     in ihnen auf.
    »Keine Sorge«, flüsterte Lucy. »Wollte nur nachsehen, ob mit ihnen
     alles in Ordnung ist.«
    Er schloß die Augen, ohne zu sprechen.
    Lucy ging
     wieder nach unten. Sie zog sich und Jo Ölzeug und Gummistiefel an, und dann gingen sie
     nach draußen. Es goß immer noch in Strömen, und der Wind blies mit ungeheurer Kraft. Sie
     blickte zum Dach hinauf. Tatsächlich fehlten einige Schieferplatten. Sie stemmte sich
     gegen den Wind und ging auf die Spitze der Klippen zu.
    Lucy hatte Jos Hand fest
     gepackt – er hätte, weiß Gott,

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