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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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leicht fortgeweht werden können. Zwei Minuten später
     wünschte sie, sie wäre im Haus geblieben. Regen drang unter dem Kragen ihres Mantels und
     oben an den Stiefeln durch. Jo konnte es nicht anders gehen. Aber da sie ohnehin
     durchnäßt waren, spielte es keine Rolle mehr, ob sie noch ein paar Minuten länger
     draußen blieben. Lucy wollte an den Strand gehen.
    Als sie jedoch am Kopf der Rampe
     ankamen, sah sie ein, daß es unmöglich war. Der schmale Holzsteg war vom Regen glitschig
     geworden. Bei diesem Wind konnte sie das Gleichgewicht verlieren und sechzig Fuß tief auf
     den Strand stürzen. Sie mußte sich damit zufriedengeben, daß sie nur hinunterschauen
     konnte.
    Welch ein Schauspiel!
    Gewaltige Wellen, jede von der Größe eines
     kleinen Hauses, rollten dicht hintereinander heran. Über dem Strand stiegen die Wellen
     noch höher, ihr Kamm krümmte sich zu einem Fragezeichen,und dann
     warfen sie sich wütend gegen den Fuß der Klippen. Gischt sprühte wie Regenschauer über
     die Spitze der Felskante, so daß Lucy hastig zurücktrat und Jo vor Freude
     quietschte. Lucy konnte ihren Sohn nur deshalb hören, weil er ihr in die Arme gesprungen
     war und sein Mund dicht an ihrem Ohr lag. Der Lärm von Wind und Meer übertönte alle
     anderen Geräusche.
    Es lag etwas ungeheuer Aufregendes darin, die Elemente zischen,
     wogen und toben zu sehen, von einem Standort aus, der ein ganz klein wenig zu nahe am Rand
     der Klippen lag. Man fühlte sich dabei bedroht und doch in Sicherheit, zitterte vor Kälte
     und schwitzte zugleich vor Angst. Es war ein Nervenkitzel in Lucys ansonsten so
     ereignisarmem Leben.
    Lucy, die sich um Jos Gesundheit sorgte, wollte sich gerade
     wieder auf den Rückweg machen, als sie das Boot bemerkte.
    Es war natürlich kein
     Boot mehr – das war das Erschreckende daran. Nur die mächtigen Spanten des Decks und des
     Kiels waren übriggeblieben. Sie waren wie eine Handvoll Streichhölzer auf den Felsen
     unterhalb der Klippen zerstreut. Es mußte ein großes Boot gewesen sein. Ein Mann könnte
     es allein gesteuert haben, dachte Lucy, aber nicht ohne Mühe. Die Zerstörung, die das
     Meer dem Menschenwerk zugefügt hatte, erfüllte einen mit Schrecken. Es war schwer, zwei
     Holzplanken auszumachen, die noch zusammengefügt waren.
    Wie in aller Welt war der
     Fremde dort lebend herausgekommen?
    Es schauderte sie bei dem Gedanken daran, was
     diese Wellen und diese Felsen einem menschlichen Körper antun konnten. Jo hatte etwas von
     dem Stimmungsumschwung seiner Mutter mitbekommen und rief ihr ins Ohr: »Heim!« Lucy
     wandte sich rasch vom Meer ab und eilte über den schlammigen Pfad zurück zum Haus.
    Sie zogen ihre nassen Mäntel, Hüte und Stiefel aus und hängten sie zum Trocknen in
     die Küche. Danach ging Lucy nach oben und sah wieder nach dem Fremden. Diesmal schlug er
     die Augennicht auf. Er schien ganz friedlich zu schlafen, doch sie
     hatte das Gefühl, daß er aufgewacht war, ihren Schritt auf der Treppe erkannt und die
     Augen wieder geschlossen hatte, bevor sie die Tür öffnete.
    Lucy ließ heißes
     Badewasser einlaufen. Der Junge und sie waren bis auf die Haut durchnäßt. Sie zog Jo aus
     und steckte ihn in die Wanne. Dann legte sie aus einem Impuls heraus ihre eigene Kleidung
     ab und stieg zu ihm hinein. Das warme Wasser war eine Wohltat. Lucy schloß die Augen und
     entspannte sich. Auch tat es gut, drinnen im Haus zu sein, im Warmen, während der Sturm
     machtlos gegen die starken Mauern aus Stein anrannte.
    Ganz plötzlich war das Leben
     interessant geworden. In einer einzigen Nacht hatte sie einen Sturm, einen Schiffbruch und
     das Auftauchen eines rätselhaften Mannes erlebt – all das nach drei langen Jahren
     . . . Sie hoffte, daß der Fremde bald aufwachen würde, damit sie alles über ihn erfahren
     konnte.
    Es wurde Zeit, den Lunch zu machen. Sie hatte etwas Hammelbrust für ein
     Irish Stew. Lucy stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Jo beschäftigte sich mit
     seinem Spielzeug, einer Gummikatze, die schon ganz zerkaut war. Lucy betrachtete sich im
     Spiegel und untersuchte ihre Schwangerschaftsstreifen. Sie verblaßten langsam, würden
     aber nie völlig verschwinden. Ein Sonnenbad ohne Badeanzug, das könnte helfen. Sie
     lächelte vor sich hin und dachte: Tolle Aussichten! Außerdem, wen kümmerte schon ihr
     Bauch? Nur sie selbst.
    »Kann ich noch eine Minute drinbleiben?« fragte Jo. »Noch
     eine Minute« konnte alles – bis zu

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