Die Nadel.
Normandie teilnehmen.
Und ob die Deutschen dort auf ihn warteten oder
nicht, hing davon ab, ob es Percival Godliman gelang, die Nadel zu fangen.
Er stieg
aus der Wanne, rasierte sich langsam und sorgfältig und überlegte: Bin ich in sie
verliebt? Er war sich nicht sicher, wie sich Liebe in seinem Alter äußerte. Bestimmt
nicht als brennende Leidenschaft der Jugend. Als Zuneigung, Bewunderung, Zärtlichkeit und
eine Spur ungewisser Begierde? Wenn das alles zusammen Liebe war, dann liebte er sie.
Und er mußte sein Leben jetzt wieder mit irgend jemandem teilen. Jahrelang hatte er
sich nichts als Einsamkeit und Ruhe für seine Forschungen gewünscht. Auch hatte es ihm
die Kameradschaft des Nachrichtendienstes angetan: Die Parties; die nächtelangen
Sitzungen, wenn etwas Wichtiges geschah; die grenzenlose Aufopferungsbereitschaft; die
wilde Vergnügungssucht der Menschen, für die der Tod immer nahe und unvorhersehbar ist
–all das hatte ihn angesteckt. Er wußte, daß vieles davon nach dem
Krieg wieder verlorengehen würde, aber anderes würde bleiben: das Bedürfnis, einen
anderen nachts zu berühren; das Bedürfnis, sagen zu können: »Hier! Sieh dir das an! Ist
das nicht großartig?«
Der Krieg war strapaziös, bedrückend, enttäuschend und
lästig, doch man hatte Freunde. Godliman hatte das Gefühl, daß er am Leben verzweifeln
würde, wenn der Frieden die Einsamkeit zurückbrachte.
Im Moment war das Gefühl
sauberer Unterwäsche und eines frisch gebügelten Hemdes ein Höhepunkt an Luxus. Er legte
noch weitere saubere Kleider in seinen Koffer und setzte sich dann, um sich einen Whisky zu
genehmigen, bevor er ins Büro zurückfuhr. Der Militärfahrer in dem beschlagnahmten
Daimler auf der Straße konnte ruhig noch ein bißchen warten.
Godliman stopfte sich
gerade eine Pfeife, als das Telefon klingelte. Er legte die Pfeife hin und steckte sich
statt dessen eine Zigarette an.
Sein Telefon war an die Amtsleitungen des
Kriegsministeriums angeschlossen. Die Telefonistin teilte ihm mit, daß ein Polizeidirektor
Dalkeith aus Stirling am Apparat sei.
Er wartete, bis es klickte und das Gespräch
durchgestellt wurde, und sagte: »Hier Godliman.«
»Wir haben Ihren Morris Cowley
gefunden«, begann Dalkeith ohne jede Einleitung.
»Wo?«
»Auf der A80 kurz
vor Stirling.«
»Leer?«
»Ja, eine Panne. Er steht seit mindestens
vierundzwanzig Stunden dort. Er wurde ein paar Meter von der Hauptstraße weggefahren und
in einem Busch versteckt. Ein schwachsinniger Bauernjunge hat ihn gefunden.«
»Ist
von dort aus eine Bushaltestelle oder ein Bahnhof zu Fuß zu erreichen?«
»Nein.«
Godliman stöhnte. »Unser Mann mußte also zu Fuß weiter oder sich von
einem Wagen mitnehmen lassen.«
»Ja.«
»Würden Sie Nachforschungen –
«
»Wir sind schon dabei, zu überprüfen, ob ihn jemand aus der Gegend gesehen
oder mitgenommen hat.«
»Gut. Geben Sie mir Bescheid . . . Ich benachrichtige
inzwischen den Yard. Vielen Dank.«
»Wir halten Sie auf dem laufenden. Auf
Wiederhören, Sir.«
Godliman hängte den Hörer ein und ging in sein
Studierzimmer. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, holte einen Atlas hervor und schlug
die Straßenkarte des nördlichen Großbritannien auf. London, Liverpool, Carlisle,
Stirling . . . Faber hielt auf den Nordosten Schottlands zu.
Godliman fragte sich,
ob die Theorie, daß Faber das Land verlassen wolle, noch zu halten sei. Der beste
Fluchtweg führte nach Westen, über das neutrale Irland. An der schottischen Ostküste
dagegen spielten sich die verschiedensten militärischen Aktivitäten ab. War es möglich,
daß Faber die Nerven besaß, seine Erkundungen fortzusetzen, obwohl er wußte, daß der
MI5 ihm auf der Spur war? Es war möglich; denn Faber, das wußte Godliman, besaß sehr
viel Mut. Doch es war unwahrscheinlich. Nichts von dem, was der Mann in Schottland
entdecken konnte, würde so wichtig sein wie die Information, die er schon besaß.
Faber versuchte also, sich über die Ostküste abzusetzen. Godliman überlegte, welche
Möglichkeiten ein Spion hatte: ein leichtes Flugzeug, das auf einem einsamen Moor landete;
die Flucht über die Nordsee in einem gestohlenen Schiff; ein Treffen mit einem U-Boot vor
der Küste; die Fahrt in einem Handelsschiff über ein neutrales Land in die Ostsee, um in
Schweden an Land zu gehen und die Grenze ins besetzte Norwegen zu überqueren – es
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