Die Nadel.
hatte er sich mit diesem letzten irrsinnigen
Spurt nach oben bleibende gesundheitliche Schäden zugefügt.
Er überprüfte seinen Besitz. Die Dose mit den Negativen haftete immer
noch an seiner Brust, das Stilett war an seinen linken Arm geschnallt, und sein Geld und
seine Papiere befanden sich in der Jackentasche des geborgten Pyjamas.
Faber schob
die Decken zur Seite und schwang sich in eine sitzende Position, so daß seine Füße den
Boden berührten. Für einen kurzen Moment wurde ihm schwindlig, aber das ging vorüber. Er
stand auf. Es war wichtig, sich nicht die Einstellung eines Kranken anzugewöhnen. Er zog
den Morgenrock an und ging ins Badezimmer.
Als er zurückkam, lag seine eigene
Kleidung, sauber und gebügelt, am Fußende des Bettes: Unterwäsche, Latzhose und
Hemd. Plötzlich fiel ihm ein, daß er irgendwann am Morgen aufgestanden war und die Frau
nackt im Badezimmer gesehen hatte; es war eine eigenartige Szene gewesen, und er wußte
nicht so ganz, was sie zu bedeuten hatte. Er erinnerte sich daran, daß die Frau sehr
hübsch war.
Langsam zog er sich an. Er hätte sich gern rasiert, doch er beschloß,
seinen Gastgeber um Erlaubnis zu bitten, bevor er sich das Rasiermesser aus dem Regal im
Badezimmer borgte. Schließlich wachen manche Männer so eifersüchtig über ihr Rasierzeug
wie über ihre Frauen. Er nahm sich jedoch die Freiheit, den Plastikkamm des Kindes zu
benutzen, den er in der oberen Schublade der Kommode gefunden hatte.
Faber blickte
ohne Stolz oder Einbildung in den Spiegel. Er wußte, daß manche Frauen ihn für anziehend
hielten und andere nicht; vermutlich konnten die meisten Männer das gleiche von sich
behaupten. Natürlich hatte er mehr Frauen gehabt als die meisten Männer, aber das führte
er auf seine sexuellen Bedürfnisse, nicht auf sein Aussehen zurück. Sein Spiegelbild
zeigte ihm, daß er sich sehen lassen konnte. Das genügte ihm.
Zufrieden verließ
er das Schlafzimmer und stieg langsam die Treppe hinunter. Wieder spürte er eine Welle der
Schwäche; wieder zwang er sich dazu, sie zu bewältigen. Er packte dasGeländer und setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, bis er das
Erdgeschoß erreicht hatte.
Er blieb vor der Wohnzimmertür stehen und ging, als er
keinen Laut hörte, weiter zur Küche. Er klopfte an und trat ein. Das junge Paar saß am
Tisch und beendete gerade sein Abendessen.
Die Frau erhob sich. »Sie sind
aufgestanden! Glauben Sie, daß das vernünftig ist?«
Faber ließ sich zu einem
Stuhl führen. »Vielen Dank! Sie sollten mir wirklich nicht einreden, daß ich mich krank
fühlen müßte.«
»Ich glaube, Ihnen ist nicht klar, was für ein schreckliches
Erlebnis Sie hinter sich haben«, sagte sie. »Möchten Sie etwas essen?«
»Ich
mache Ihnen Unannehmlichkeiten – «
»Nicht die geringsten. Seien Sie nicht
albern. Ich habe etwas heiße Suppe für Sie aufgehoben.«
»Sie sind sehr
liebenswürdig, und ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen.«
»David und Lucy
Rose.« Sie schöpfte Suppe in eine Schüssel und stellte sie vor ihm auf den
Tisch. »Würdest du etwas Brot abschneiden, David?«
»Ich heiße Henry Baker.«
Faber wußte nicht, warum er diesen Namen genannt hatte. Für diesen besaß er keine
Papiere. Da die Polizei Jagd auf Henry Faber machte, hätte er sich als James Baker
ausgeben sollen. Aber aus irgendeinem Grunde wollte er, daß diese Frau ihn Henry nannte
– es war die englische Entsprechung, die seinem echten Namen Heinrich am nächsten
kam.
Er probierte einen Löffel Suppe und war plötzlich heißhungrig. Schnell aß
er sie auf und verschlang danach das Brot. Als er fertig war, lachte Lucy. Sie sah
wundervoll aus, wenn sie lachte: Ihr Mund war weit geöffnet und zeigte zwei Reihen
gleichmäßiger weißer Zähne, und an ihren Augenwinkeln bildeten sich fröhliche
Lachfalten.
»Noch etwas?« bot sie an.
»Ja, bitte.«
«Man sieht, daß es Ihnen guttut. Ihre Wangen
bekommen wieder Farbe.«
Faber merkte, daß er sich körperlich besser fühlte. Er
aß seine zweite Portion langsamer – nicht, weil er satt gewesen wäre, sondern eher aus
Höflichkeit.
»Wie kam es, daß Sie bei dem Sturm draußen waren?« fragte
David. Er sprach zum erstenmal.
»Jetzt laß ihn doch erst mal, David . . . «
»Nein, nein, ist schon gut«, sagte Faber. »Reine Dummheit. Es war der erste
Angelurlaub, den ich seit Kriegsbeginn nehmen konnte, und
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