Die nächste Begegnung
die Küche in Ordnung gebracht hatte, stand unauffällig hinter Benjys Stuhl unter der Tür. »Möchtet ihr gern einen Drink?«, fragte Nicole mit einer Handbewegung zu dem Bioten hin. »Wir haben zwar nichts, was sich mit euren frischgepressten Fruchtsäften von der Erde vergleichen ließe, aber Line kann doch ein paar interessante synthetische Mixturen zaubern.«
»Danke«, sagte Benjy und schüttelte den Kopf. »Aber mir wird grad bewusst, dass wir den ganzen Abend lang nur über eure unglaubliche Odyssee gesprochen haben. Ihr habt doch bestimmt auch Fragen an uns. Immerhin sind auf der Erde fünfundvierzig Jahre seit dem Start der Newton vergangen ...«
FünfundvierzigJahre ! dachte Nicole plötzlich. Ist so was möglich? Ist meine Genevieve wirklich schon fast sechzig?
Sie erinnerte sich deutlich an die letzte Begegnung mit ihrem Vater und ihrer Tochter ... >unten< auf der Erde. Die beiden hatten sie zum Pariser Flughafen begleitet. Ihre Tochter hatte sie wild und fest umklammert gehalten, bis der letzte Aufruf kam. Dann hatte sie mit großen, vor heftiger Liebe und Stolz glühenden Augen zu ihrer Mutter heraufgeblickt. Voll Tränen in den Augen. Unfähig, noch etwas zu sagen ... Und in diesen fünfundvierzig Jahren ist mein Vater gestorben ... Genevieve ist eine Matrone, womöglich längst Großmutter ... und ich bin durch Zeit und Raum gewandert ... in einer Wunderwelt .. .
Es wurde Nicole zu viel der Erinnerungen. Also holte sie tief Luft und riss sich zusammen. Alle schwiegen noch, als sie in die Gegenwart des Wakefield'schen Wohnzimmers zurückkehrte.
»Alles klar?«, fragte Kenji behutsam. Nicole nickte und schaute wie gebannt in die sanften, freimütig blickenden Augen dieses neuen Freundes. Flüchtig überkam sie das Gefühl, als spreche sie mit ihrem Kosmonautenfreund Shigeru Takagishi aus dem Newton-Team. Sie dachte: Der Mann da steckt genauso voller Wissbegier wie damals Shig. Ich kann ihm trauen. Und außerdem hat er erst vor ein paar Jahren mit Genevieve gesprochen.
»Man hat uns ja die allgemeine Entwicklung auf der Erde erklärt ... bruchstückhaft ... und ziemlich lückenhaft ... bei unseren zahlreichen Gesprächen mit anderen Passagieren der Pinta«, sagte Nicole nach einem langen Schweigen. »Aber wir wissen überhaupt nichts darüber, was mit unseren Familienangehörigen geschehen ist, außer den paar knappen Informationen, die ihr uns am ersten Abend gegeben habt. Aber es wäre uns, Richard und mir, wirklich sehr lieb, wenn ihr euch an ein paar mehr Einzelheiten erinnern könntet, die damals in unsren ersten Gesprächen nicht erwähnt wurden.«
»Tatsächlich habe ich mir gerade heute Nachmittag mal wieder meine Tagebücher vorgenommen«, erwiderte Kenji, »und die Eintragungen gelesen, die ich während der ersten Recherchen für mein Buch über die Newton machte. Ein besonders wichtiger Punkt, den ich bei unserem früheren Gespräch zu erwähnen vergaß, ist die Ähnlichkeit deiner Tochter mit ihrem Vater. Das Gesicht König Hen ry s war aufregend, wie du dich zweife ll os erinnern wirst. Als Genevieve erwachsen wurde, verlängerte sich ihr Gesicht, und sie sah ihm recht markant ähnlich ... Hier, sieh dir mal die Bilder da an. Ich habe in meiner Datei ein paar Fotos von meinem dreitägigen Besuch in Beauvois gespeichert.«
Der Anblick Genevieves überwältigte Nicole. Tränen sprangen ihr in die Augen und strömten die Wangen hinab. Ihre Hände zitterten, als sie die beiden Fotos von Genevieve und ihrem Mann, Louis Gaston, zu halten versuchte. Ach, meine Genevieve, schluchzte sie in sich hinein, wie sehr hast du mir gefehlt. Wie gern würde ich dich nur einen Augenblick lang umarmen dürfen.
Richard beugte sich über ihre Schultern, um sich die Bilder anzusehen. Dabei streichelte er Nicole sanft. »Doch, sie sieht dem P ri nzen irgendwie ähnlich«, bemerkte er leise, »aber ich finde, sie sieht viel mehr aus wie ihre Mutter.«
»Genevieve war sehr freundlich zu mir«, fügte Kenji hinzu. »Und das überraschte mich angesichts dessen, was sie bei der ganzen Hexenjagd in den Medien im Jahre 2238 durchmachen musste. Sie ging höchst geduldig auf meine Fragen ein. Ich hatte beabsichtigt, sie zu einer Kernfigur meines Newton- Buchs zu machen; aber dann hat mir mein Redakteur das ganze Projekt ausgeredet.«
»Wie viel von den Newton-Kosmonauten leben noch?«, fragte Richard, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen, während Nicole weiter stumm die beiden Fotos anstarrte.
»Nur
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