Die nächste Begegnung
größere Angst, wenn du bei Michael bist, als jemals, wenn Sarah mit Hugh Sinclair oder sonst einem ihrer Bühnenkollegen zusammen war.
Ich hoffe, dass ich mich wenigstens teilweise verständlich gemacht habe. Ich gehe weg, weil ich meine Eifersucht nicht unter Kontrolle halten kann, obwohl ich weiß, dass sie absurd und unbegründet ist. Ich möchte nicht wie mein Vater werden, der sein Elend im Alkohol zu ersäufen versuchte und alle um sich herum dabei kaputtgemacht hat. Ich spüre, dass es dir gelingen wird, diese Befruchtung zu erreichen — so oder so —, aber ich möchte dir doch lieber während der Zeit mein übles Betragen ersparen ...
... Ich nehme an, ich komme bald wieder zurück, es sei denn, ich stoße auf unvorhersehbare Gefahren bei meinen Erkundungen, aber ich weiß noch nicht genau, wann das sein wird. Ich hab jetzt einen Rekonvaleszenzurlaub nötig, damit ich danach wieder zuverlässig zum Wohl unsrer Familie beitragen kann. Sag den Mädchen, ich bin mal eben weg auf einer Exkursion. Und sei besonders lieb zu Katie — sie wird mich am meisten vermissen.
Ich liebe dich, Nicole. Ich weiß, es wird dir schwerfallen zu begreifen, warum ich weggehe, aber versuch es! Bitte! Richard.«
13-05-2205
Hab heute fünf Stunden lang droben in New York nach Richard gesucht. Ich ging rüber zu den Gruben, zu allen zwei Flechtnetzen und auf alle drei Plazas. Ich umwanderte auf der Kaimauer die ganze Insel. Ich rüttelte am Gitter über dem Loch der Oktarachniden und stieg sogar kurz ins Land der Ramavögel hinab. Überall rief ich seinen Namen. Mir fiel ein, dass Richard vor fünf Jahren mich mit dem Navigationsstrahl fand, den er seinem Shakespeare-Roboter, dem P ri nzen Heinrich, eingebaut hatte. So etwas hätte ich heute auch gut gebrauchen können.
Ich fand nirgendwo eine Spur von Richard. Ich glaube, er ist von der Insel fort. Er ist ein hervorragender Schwimmer —er hätte es mühelos rüber bis zum nördlichen Hemizylinder schaffen können —, aber da waren ja auch noch diese bizarren Bewohner des Zylindermeeres ... Würden die ihn heil hinüberlassen?
Komm zurück, Richard! Ich brauche dich! Ich liebe dich!
Allem Anschein nach hat er seine Abwesenheit für mehrere Tage geplant. Er hatte unsre Interaktionsliste mit den Ramanern auf den neuesten Stand gebracht und vorformuliert, um es für Michael und mich möglichst leicht zu machen. Und er hat den größten Rucksack mitgenommen und seinen liebsten Freund — TB —, aber die Beckett-Roboter hat er zurückgelassen.
Seit seinem Verschwinden sind die gemeinsamen Mahlzeiten grässlich geworden. Katie ist fast stets gereizt und nörgelt, wann ihr Daddy endlich wieder da ist und wieso er so lang wegbleibt. Michael und Simone leiden als stille Dulder. Ihre Bindung vertieft sich immer mehr — anscheinend können sie einander recht geschickt Trost spenden. Was mich angeht, so versuche ich einfach, mich eingehender um Katie zu kümmern, doch bin ich leider kein akzeptabler Ersatz für den geliebten >Daddy<.
Nachts ist es scheußlich. Ich kann nicht schlafen. Ich arbeite sämtliche meiner Interaktionen mit Richard während der letzten beiden Monate wieder und wieder durch und mache mir alle meine Fehlentscheidungen wieder gegenwärtig. Sein Abschiedsbrief war sehr enthüllend. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, dass seine vorhe ri gen Probleme mit Sarah unsere Ehe im Geringsten beeinflussen könnten, aber ich begreife inzwischen, was er da über Prägungen und Muster sagt.
Schließlich habe ja auch ich in meinem Gefühlsleben vorgegebene Muster. Der Tod meiner Mutter, als ich grade zehn war, lehrte mich, wie entsetzlich es ist, verlassen zu sein. Und die Furcht vor dem Verlust einer starken Bindung hat es mir schwergemacht, mit Menschen intim und vertrauensvoll umzugehen. Nach dem Verlust meiner Mutter kamen die anderen Verluste: Genevieve, mein Vater — und jetzt (hoffentlich nur zeitweilig!) Richard. Und jedes Mal, wenn sich das Schema wiederholt, erwachen alle die Schreckgespenster der Vergangenheit wieder zum Leben. Als ich mich, das ist jetzt zwei Nächte her, in den Schlaf geheult hatte, wurde mir bewusst, dass ich nicht bloß Trennungsschmerz wegen Richard fühlte, sondern gleichfalls wegen Mutter, Genevieve und meinem wunderbaren Vater. Ich durchlebte alle drei Verlusterfahrungen erneut. Also kann ich jetzt durchaus begreifen, wie meine Kontaktversuche mit Michael in Richard diese qualvollen Erinnerungen an Sarah auslösen konnten.
Der
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