Die nächste Begegnung
Lernprozess im Leben höret nimmer auf. Da sitze ich, bin einundvierzig Jahre alt und entdecke ein weiteres Stückchen Wahrheit über menschliche Beziehungen. Ich muss Richard ganz offensichtlich tief verletzt haben. Es spielt dabei keine Rolle, dass seine Befürchtungen, mein Sexualkontakt zu Michael könnte meine Liebe und Zuneigung ihm, Richard, entfremden oder gar wegnehmen, jeglicher logischen Grundlage entbehren. Die Logik hat hier keinen Platz. Da zählen eben nur Wahrnehmungen und Gefühle.
Ich hatte vergessen, wie verheerend Einsamkeit sich auswirken kann. Richard und ich sind seit fünfJahren zusammen. Er besitzt vielleicht nicht sämtliche Eigenschaften, die ich mir von meinem Märchenprinzen erträumt hätte, aber er ist mir stets ein wunderbarer Gefährte gewesen, und außerdem ist er ganz zweifellos das intelligenteste menschliche Wesen, dem ich je begegnete. Es wäre unermesslich tragisch, wenn er nicht zurückkommen sollte. Und wenn ich mir auch nur für einen Augenblick ausmale, dass ich ihn vielleicht zum letzten Mal gesehen habe, dann überkommt mich maßlose Trauer.
Nachts, wo ich meine Verlassenheit besonders deutlich fühle, lese ich jetzt oft Gedichte. Schon seit der Uni-Zeit sind Baudelaire und Eliot meine Lieblingsdichter, doch seit ein paar Abenden finde ich Trost in den Gedichten der Benita Garda.
Während ihrer Kadettenzeit an der Space Academy in Colorado brachte ihr ihre wilde Lebenslust eine Menge Kummer ein. Sie stürzte sich mit gleichem Feuer in ihre Kosmonautikstudien wie in die Arme der Männer um sie herum. Als Benita vor dem Kadetten-Disziplinarausschuss wegen nichts weiter als hemmungsloser Sexualität zur Verantwortung gezogen wurde, begriff sie, wie schizophren Männer in Sexualdingen sind.
Die meisten Literaturkritiker bevorzugen ihren ersten Gedichtband, DREAMS OF A MEXICAN GIRL, mit dem sie ihren Rang begründete, als sie noch ein Teenager war, gegenüber dem weniger lyrischen, aber weiseren, profunderen Band von Texten aus ihrem letzten Jahr an der Academy. Und nun, wo Richard fort ist und ich mir immer noch das Hirn zermartere, um zu verstehen, was während der letzten Monate wirklich passierte, sind es eben die Gedichte aus Benitas spät-adoleszenter Periode voll Angst und unsicherem Fragen, die in mir Anklang finden. Für sie war das Erwachsenwerden extrem schwierig. Ihre Arbeiten blieben auch weiter reich an Bildhaftigkeit, aber sie war nicht mehr >Polyanna<, die durch die Ruinen Uxmals wanderte. Heute Abend habe ich mehrere Male eines ihrer >akademischen< Gedichte gelesen, das mir besonders nahegeht.
My dresses brighten up my room,
(Die Kleider bringen Licht ins Zimmer,)
Like desert flowers after rain.
(Wie Wüstenblüten nach dem Regen.)
You come tonight, my newest love,
(Du kommst zu mir heut Nacht, jüngster Geliebter,)
But which me do you want to see?
(Doch welches >mich, erwartest du?)
The pale pastels are best for books,
(Die Fahlpastellnen eignen sich für Bücher,)
My blues and greens, an evening make,
( Die Blauen, Grünen, Abendmake-up,
As friend, or even wife to be.
( Brauchbar als Freundin und sogar vielleicht für eine künftige Frau. )
But if it's sex that's in your mind,
( Doch wenn dir heut nach Sex zumute ist,)
Then red or black and darkened eyes,
( Sind Rot und Schwarz und Schattenaugen
Become the whore that I must be.
( Wohl günstiger für die Hure, die ich sein soll.)
My childhood dreams were not like this,
( In meiner Kindheit träumte ich nicht so,)
My prince came only for a kiss,
( Mein Prinz kam nur für einen Kuss,)
Then carried me away from pain,
( Und trug mich fort aus meinem Weh,)
Can I not see him once again?
( Ob ich ihn jemals wiederseh'?)
The masks offend me, college boy,
( Maskierungen beleidigen mich, mein Uni-Knabe,)
I wear my dress without much joy.
( Glaub nicht, dass ich an meinen Kleidern große Freude habe.)
The price I pay to hold your hand,
(Ich zahle dafür einen hohen Preis,)
Belittles me as you have planned.
( Das Händchen dir zu halten nach Geheiß.)
9
14 -12-2205
Vermutlich sollte ich Festvorbereitungen treffen, aber ich habe das Gefühl, dass ich einen Pyrrhussieg errungen habe. Endlich bin ich mit einem Kind von Michael schwanger. Aber zu welchem Preis! Wir haben noch immer nichts von Richard gehört, und ich fürchte, ich habe mir jetzt auch noch Michael entfremdet.
Er und ich haben — jeder für sich — die volle Verantwortung für Richards Verschwinden auf uns
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