Die nächste Begegnung
Whittingham-Syndrom nichts weiter bedeute als eine Lernhemmung, eine einfache Funktionsstörung der elektrochemischen Prozesse im Gehirn.
Als ich letzte Woche den ersten Partialgenomtest durchführte, vermutete ich zwar bereits Whittington, aber da die Ergebnisse nicht völlig positiv waren, sagte ich Michael nichts davon. Und ehe ich eine zweite Amniozentese machte, wollte ich erst einmal alles nachlesen, was über das Krankheitsbild bekannt war. In meiner medizinischen Enzyklopädie fand ich leider keine ausreichenden Informationen, die mich hätten beruhigen können.
Heute Nachmittag — Katie machte ihren Mittagsschlaf — baten Michael und ich Simone, ob sie so lieb sein würde, sich mit einem Buch für eine Stunde oder so ins Kinderzimmer zu verziehen. Unser perfektes Engelchen war dazu gern bereit. Michael war jetzt viel gelassener als am Morgen. Er gab zu, dass ihn die Eröffnung niedergeschmettert habe, dass Benjy (Michael möchte, dass der Junge nach seinem Großvater Benjamin Ryan O'Toole genannt wird) beschädigt sein wird. Aber anscheinend brachte ihm die Lektüre des Buchs Hiob dann doch wieder einigermaßen die richtige Perspektive bei.
Ich erklärte ihm, dass Benjys geistige Entwicklung langsam und mühselig verlaufen werde. Es tröstete ihn aber doch, als ich ihm mitteilte, dass viele Whittingham-Leidende nach zwanzigjährigem Unterricht immerhin das Durchschnittsniveau von Zwölfjährigen erreichen könnten. Ich versicherte Michael, dass es keine körperlich sichtbaren Merkmale des Defekts geben werde, wie etwa bei Down's/Mongolismus, und dass es recht unwahrscheinlich sei — da es sich bei Whittington um ein blockiertes Rezessivmerkmal handle —, dass eine potentielle Nachkommenschaft davon beeinträchtigt wer den könnte, jedenfalls nur frühestens in der dritten Generation.
»Kann man irgendwie feststellen, wer von uns beiden die Anlage dieses Syndroms in den Genen trägt?«, fragte Michael gegen Ende unsres Gesprächs.
»Nein. Die Störung lässt sich nur sehr schwer isoliert erfassen, da sie anscheinend durch mehrere verschiedene defekte Gene ausgelöst wird. Nur wenn das Syndrom akut wird, ist die exakte Diagnose möglich. Auch auf der Erde waren die Versuche, den Defekt bei latenten Trägern zu identifizieren, nicht erfolgreich.«
Dann erzählte ich ihm, dass es seit der Erstdiagnose der Krankheit im Jahre 2068 in Afrika und Asien nahezu keine registrierten Fälle gab, sondern dass es sich grundsätzlich um eine Krankheit bei weißhäutigen >Kaukasiern , handle, die in Irland die höchste Fallfrequenz erreichte. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass Michael selbst sehr bald auf diese Information stoßen werde (es steht alles im Hauptartikel der Medizinischen Enzyklopädie, die er gerade studiert) , und ich wollte nicht, dass er sich noch miserabler fühlt, als er es sowieso schon tut.
»Und gibt es keine Heilung?«, fragte er dann.
»Für uns nicht.«Ich schüttelte den Kopf. »Es hat im letzten Jahrzehnt ein paar vielversprechende Hinweise gegeben, dass genetische Gegenmaßnahmen vielleicht wirken könnten, sofern sie im Verlauf des zweiten Schwangerschaftstrimesters eingesetzt werden. Aber das Verfahren ist dermaßen kompliziert, sogar auf der Erde wäre es das ... und könnte schlimmstenfalls zum Abortus des Fetus führen.«
Hier wäre der beste Zeitpunkt in unsrer Diskussion gewesen, d as s Michael den Begriff >Abtreibung< einführen konnte. Er schwieg. Sein Glaubenskorsett ist dermaßen starr und unnachgiebig, dass ich ziemlich sicher bin, er hat nie auch nur an so etwas gedacht. Eine Abtreibung ist für ihn eine absolute Sünde ... in Rama wie auch auf Erden. Ich ertappte mich dabei, d as s ich mir Umstände vorzustellen versuchte, unter denen Michael einen Schwangerschaftsabbruch — vielleicht — für >denkbar< halten würde. Wenn nun unser Sohn nicht nur mit dem Down-Syndrom behaftet, sondern auch noch blind geboren würde? Oder mit anderen multiplen Erbschäden, die einen sicheren frühen Tod bewirken mussten?
Wäre Richard bei uns gewesen, wir hätten eine logische Diskussion über Vor- und Nachteile einer Abtreibung durchführen können. Richard hätte eine seiner berühmten »Ben-Frankling-Listen« produziert und die Argumente dafür und dagegen säuberlich auf dem Großbildschirm in Kolumnen geordnet. Ich hätte dem eine lange Liste emotionaler Gründe beigefügt (die Richard in seiner Aufstellung unterschlagen hätte), keine Abtreibung vorzunehmen, und am Schluss
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