Die nächste Begegnung
Aufwachen mit einer Lektion über Relativität beschossen zu werden. Vielleicht magst du es mir später erklären, beim Essen? Momentan haben wir nämlich ein dringlicheres Problem. In welcher Reihenfolge sollen wir die Kinder wecken?«
»Ich möchte was andres vorschlagen«, sagte Richard nach kurzem Zögern. »Mir ist klar, wie stark es dich danach drängt, die Kinder wiederzusehen. Mich ebenfalls. Aber warum lassen wir sie nicht noch ein paar Stunden schlafen? Es schadet ihnen bestimmt nicht. Aber wir beide haben eine Menge zu besprechen. Wir könnten unsre Vorbereitungen für die Begegnung treffen, abstecken, was wir für die Erziehung der Kinder unternehmen wollen ... und vielleicht sogar ein, zwei Augenblicke abzweigen, um uns wieder aneinander zu gewöhnen...«
Es drängte Nicole danach, mit den Kindern zu sprechen, aber sie sah natürlich ein, dass Richards Vorschlag vernünftig war. Die Familie hatte nur ansatzweise geplant, wie sie nach dem Erwachen vorgehen sollten, hauptsächlich weil der Adler immer wieder betont hatte, es gebe zu viele Unwägbarkeiten, als dass man die Umstände exakt hätte vorherbestimmen können. Also wäre es zweifellos einfacher, eine Teilplanung vorzunehmen, bevor die Kinder wach waren .. .
»Also gut«, sagte Nicole schließlich, »sobald ich genau weiß, dass sie alle okay sind ... « Sie blickte den ersten Tiasso an.
»Alle Monitorangaben zeigen, dass alle eure Kinder die Schlafperiode ohne signifikante Störungen durchlebten«, sagte der Biot.
Nicole wandte sich wieder Richard zu und betrachtete ihn genauer. Sein Gesicht wirkte ein wenig älter, doch nicht in dem Maß, wie sie es erwartet hätte.
»Wo ist denn dein Bart geblieben?«, platzte sie plötzlich heraus, als ihr auffiel, dass er ganz ungewohnt glattrasiert war.
»Wir rasierten die Männer gestern im Schlaf«, erklärte #009. »Wir schnitten auch allen die Haare und badeten euch — entsprechend Programmplan.«
Die Männer?, dachte Nicole momentan verwirrt. Aber klar doch ... Benjy und Patrick sind ja jetzt Männer!
Sie ergriff Richard bei der Hand und zog ihn rasch zu Patricks Koje. Das Gesicht hinter dem Fenster war verblüffend. Das war nicht mehr der kleine Junge. Patricks Gesicht war beträchtlich länger geworden, die runden Konturen waren verschwunden. Nicole starrte ihren Sohn minutenlang stumm an.
»Die Altersäquivalenz beträgt sechzehn oder siebzehn«, sagte #017 als Antwort auf Nicoles fragenden Blick. »Mr Benjamin O'Toole bleibt anderthalb Jahre älter. Diese Altersangaben sind natürlich nur approximativ. Wie der Adler euch vor der Abreise erklärte, ist es uns gelungen, die den Alterungsprozess bestimmenden Schlüsselenzyme in euch allen etwas zu verlangsamen — aber eben nicht bei allen gleichermaßen. Wenn wir jetzt sagen, dass Mr Patrick O'Toole sechzehn oder siebzehn Jahre alt ist, dann bezieht sich das nur auf seine persönliche interne biologische Uhr. Das angegebene Alter ist ein Durchschnittswert, errechnet aus seinem Wachstum, seiner Reifung und den zusätzlichen Alterungsprozessen.«
Sie blieben bei allen anderen Containern stehen und schauten minutenlang durch die Sichtscheibe auf ihre schlafenden Kinder. Nicole schüttelte wiederholt benommen den Kopf. »Wo sind meine Babys hin?«, fragte sie, als sie sah, dass sogar Klein-Ellie auf der langen Reise zum Teenager geworden war.
»Wir wussten doch, dass es so kommen würde«, kommentierte Richard sachlich, was der Mutter in Nicole aber nicht half, der Verlustgefühle Herr zu werden, die sie empfand.
»Es wissen ist eins«, antwortete sie. »Aber es dann zu sehen
und zu erleben, das ist was ganz andres. Das hier ist doch nicht der typische Fall, wo Mutti auf einmal begreift, dass ihre Jungs und Mädchen ganz erwachsen geworden sind. Was unseren Kindern passierte, das ist doch wirklich bestürzend. Ihre geistige Entwicklung und Sozialisation wurden für vergleichbare zehn bis zwölf Jahre unterbrochen. Was wir jetzt haben, sind kleine Kinder, die in den Körpern von Erwachsenen herumlaufen werden. Wie können wir sie denn bloß in knapp sechs Monaten auf die Begegnung mit andren Menschen vorbereiten?«
Nicole war niedergeschlagen. Hatte sie irgendwie dem Adler nicht geglaubt, als er ihr beschrieb, was mit der Familie geschehen werde? Vielleicht. Es war ein weiteres unglaubliches Begebnis in ihrem Leben, das schon seit langem das Begriffsvermögen überstiegen hatte. Aber als ihre Mutter, dachte sie, habe ich so viel zu tun, und
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