Die Nächte der Aphrodite
etwas zu sagen, aber kein Laut drang über seine ausgedörrten Lippen. Als sich Vincent abwandte und davonlief, fiel Henris letzte Hoffnung auf Rettung in sich zusammen. Vincent hatte nichts mit den Mordanschlägen zu tun, aber offensichtlich hatte auch er einen Grund, ihn dem Tiger zum Fraß vorzuwerfen. Müde lehnte er den Kopf an die Gitterstäbe. Elaine bewegte sich wieder, ihre Augen blieben aber geschlossen.
Henri maß die Entfernung zu der verriegelten Tür. Sechs Meter, vielleicht sieben. Alleine könnte er es möglicherweise schaffen, aber nicht mit Elaine auf den Armen. Und sie schutzlos zurückzulassen, das kam nicht in Frage. Obwohl es wenig Sinn machte, dass sie beide das Opfer des Tigers wurden. Aber der Fluch, sein Leben auf ihre Kosten gerettet zu haben, würde ihn bis ans Totenbett begleiten und ihn keinen glücklichen Tag mehr haben lassen.
Wildes Schnattern riss ihn aus seinen Gedanken. Vincent rannte über den kiesbestreuten Weg und schwenkte eine Ente an den Beinen. Sie hackte wütend auf ihn ein, aber er lockerte seinen Griff nicht, sondern ging ins Winterhaus. Wenig später wurde die Klappe hochgezogen und das Kreischen der Ente ertönte von drinnen.
Sahib, der schon bei den ersten Lauten interessiert den Kopf gehoben hatte, stand auf. Den halb aufgefressenen Arm ließ er achtlos liegen. Mit federnden Bewegungen seines massigen Körpers lief er zum Einlass des Winterhauses und verschwand dahinter. Der letzte Aufschrei der Ente wurde durch das Herabfallen der Klappe erstickt.
Henris Finger lösten sich von den Gitterstäben. Er sank zu Boden, wo er mit ausgestreckten Beinen wie eine vergessene Puppe sitzen blieb. Die Erleichterung trieb ihm Tränen in die Augen.
Arme legten sich um ihn, und er vergrub sein Gesicht an Vincents Hals. »Alles wird gut. Ganz ruhig, alles wird gut.« Die Worte drangen an sein Ohr, erreichten aber nicht seinen Verstand. Hände strichen begütigend über seinen Rücken und zögernd wich der Albtraum.
Als Vincent aufstehen wollte, klammerte er sich wie ein kleines Kind an ihm fest. »Nicht weggehen, nicht gehen«, murmelte er panisch.
»Ich bin gleich zurück. Ich trage Elaine aus dem Zwinger, dann bin ich wieder bei dir.«
Eine Hand strich über sein kurzgeschorenes Haar und seine Wange. Henri zog die Beine an die Brust und umschlang sie mit den Armen, während er zusah, wie Vincent Elaine hochhob. Kälte breitete sich unvermittelt in ihm aus, und seine Zähne schlugen aufeinander. Das schweißnasse Hemd fühlte sich wie ein Eismantel auf seiner klammen Haut an.
»Mein Gott, du frierst ja.« Vincent hängte ihm seine Jacke um die Schultern. »Besser?«
Er nickte, obwohl nichts besser war.
»Kannst du aufstehen? Ich helfe dir.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Vincent den Arm um seine Taille und half ihm, sich aufzurichten. Seine Beine fühlten sich an wie Brei. Er stützte sich schwer auf den anderen Mann, und als er endlich auf der Bank saß, auf die Vincent Elaine gelegt hatte, erschien es ihm, als hätte er einen Berg bestiegen.
Sein Blick glitt zu Elaine. »Wie geht es ihr? Sie sollte doch langsam zu Bewusstsein kommen.«
»Sie regte sich, als ich sie hierher getragen habe. Vielleicht braucht sie noch etwas Zeit«, sagte Vincent ruhig und strich über Elaines blasses Gesicht.
»Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn sie meinetwegen Schaden erleidet.« Er vergrub das Gesicht in den Händen.
»Was ist überhaupt passiert?« Vincent hockte sich vor ihm nieder.
Henri ließ die Hände sinken. »Hast du Bernard nicht gesehen?«
»Natürlich. Er liegt vor dem Zwinger. Tot. Und sein Arm liegt im Zwinger. Aber deshalb weiß ich noch immer nicht, was passiert ist.«
Die Sorge auf seinem Gesicht entging Henri trotz seines eigenen erbärmlichen Zustands nicht. Aber sein überreizter Verstand war unfähig, die Bedeutung zu verarbeiten. Deshalb konzentrierte er sich darauf, die Fakten emotionslos wiederzugeben. »Er wollte mich töten, weil er mir die Schuld für den Selbstmord seiner Tochter gab«, sagte Henri. Die Kälte wich lähmender Müdigkeit. Er wollte nur mehr in sein Bett und schlafen. »Er muss Elaine hergelockt, niedergeschlagen und in den Zwinger gelegt haben. Mir erzählte er, dass sie mich sprechen wollte. Als ich ankam und sie im Zwinger liegen sah, ging ich natürlich hinein, und Bernard verriegelte das Gitter hinter mir. Dann hob er die Klappe für Sahib und reizte ihn mit einer Stange so lange, bis er wütend genug war, mich bei der
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