Die Nächte der Aphrodite
»Baptiste Brasselet ist mein Vater. Als der Unfall passierte, war ich vierzehn Jahre alt.«
Henri versuchte einen Zusammenhang zum vorher Gesagten herzustellen, scheiterte aber kläglich. Fragend blickte er Vincent an.
»Ich bin das zweitjüngste von fünf Geschwistern. Meine Schwestern waren bereits verheiratet, mein älterer Bruder arbeitete mit den anderen auf den Feldern und mein kleiner Bruder fing gerade an zu laufen. Als man meinen Vater schwer verletzt in unsere Hütte brachte, glaubte keiner daran, dass er überleben würde. Die Tränen meiner Mutter galten nicht nur meinem Vater, sondern auch der Tatsache, dass sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte - ohne ihn.«
Henri versuchte sich zu erinnern. Baptiste Brasselet gehörte zu den zahlreichen Pächtern auf seinen Besitzungen. Er hatte sich mit einem Arzt auf den Weg zu seiner Hütte gemacht, sobald er von dem Vorfall erfahren hatte. Da war das zerquetschte Bein schon brandig gewesen, und die einzige Möglichkeit, den Mann am Leben zu halten, bestand in einer Amputation über dem Knie.
»Inmitten all der Verzweiflung tauchte plötzlich der legendäre Herzog von Mariasse auf, den die meisten von uns nur vom Hörensagen kannten.« Vincent schloss die Finger um die Rückenlehne des Stuhls, als müsse er sich festhalten, um nicht zu straucheln. »Ich sehe Euch noch heute in unserer Hütte stehen, vor dem Bett, in dem mein Vater lag, fiebernd und schweißüberströmt. Im Zimmer stank es nach Wundbrand, nach Verzweiflung, nach Armut und nach Tod. Das Jammern und Klagen meiner Mutter hallte in der kleinen Kammer wider. Ich hielt Jean auf meinen Knien und wusste nicht ein noch aus. Und inmitten all dessen stand der Herzog von Mariasse in seinem feinsten Brokat mit gepuderter Perücke und geschminktem Gesicht.«
Nach einer kleinen Pause fuhr Vincent fort. »Ich hatte noch nie einen von den feinen Herrschaften aus der Nähe gesehen und fand Euch lächerlich. Wirklich lächerlich. Aber dann habe ich den Ausdruck in Euren Augen gesehen, mit denen Ihr meinen Vater und meine völlig aufgelöste Mutter angesehen habt. Und dann mich und den kleinen Jean.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber das sind Sentimentalitäten. Was zählt, sind Taten. Ihr habt nicht nur den Arzt bezahlt, sondern dafür gesorgt, dass er wiederkam und die Wunde meines Vaters versorgte, so lange, bis sie verheilt war. Ihr habt meiner Mutter lebenslanges Wohnrecht in der Hütte versprochen und Weihnachten und Ostern habt Ihr regelmäßig einen Beutel Münzen überbringen lassen.« Er atmete tief ein. »Ihr seid in dem Jahr nach dem Unfall sechs Mal in der Hütte gewesen, um Euch nach dem Befinden meines Vaters zu erkundigen. Ohne Perücke und ohne Schminke. Ihr seid mit ihm auf der Bank vor dem Haus gesessen und habt ihn ermutigt, Holzspielzeug zu schnitzen, statt mit dem Schicksal zu hadern. Ihr habt mit uns am Tisch gesessen und gegessen, ohne eine Miene zu verziehen über das angeschlagene Tongeschirr und die hölzernen Löffel. Ihr habt Jean auf Euer Pferd gesetzt und herumgeführt. Zwei Mal habt Ihr mit mir gewürfelt und mich gewinnen lassen. Die Anstecknadel besitze ich noch heute.« Die Finger krampften sich so fest um die Lehne des Stuhls, dass die Knöchel weiß heraustraten. »Nach dem sechsten Mal kamt Ihr nicht wieder. Ich wartete und wartete, und während ich wartete, wurde mir klar, wie sehr ich Euch vermisste. Nicht als gönnerhaften Onkel. Nicht als Patron. Nicht als einen bloßen Freund. Es war ein seltsames Gefühl, das ich zuerst nicht einordnen konnte. Ich hatte für Mädchen schon damals nichts übrig, sie waren nett, aber ich fühlte mich niemals zu ihnen hingezogen. Dagegen betrachtete ich bei der Feldarbeit oft die halbnackten Männer, und das bereitete mir ausgesprochenes Vergnügen.« Sein Griff um die Lehne lockerte sich, und auch seine Stimme verlor etwas an Anspannung. »Sehnsucht und Ruhelosigkeit trieben mich schließlich zu Eurem Palast, nur um zu erfahren, dass Ihr nach Versailles gegangen wärt. Ehrlich gestanden, ich wusste ohnehin nicht, was ich hätte sagen sollen, wenn ich Euch angetroffen hätte. Es zog mich einfach an den Ort, an dem Ihr lebtet.
Aber der Palast und die Gärten öffneten mir die Augen darüber, dass Eure Welt und meine Welt nichts gemeinsam haben. Also kehrte ich niedergeschlagen zurück und versuchte, Euch zu vergessen.«
Ein trauriges Lächeln glitt über seine Züge. »Genauso gut hätte ich versuchen können, nicht zu
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