Die Nächte der Aphrodite
arrogantes Verhalten. Aber im Augenblick wollte er nur schlafen. Nichts als schlafen, um sich vor der rauen Wirklichkeit zu verstecken.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Noch ehe er etwas antworten konnte, trat Vincent ein. Er trug ein Tablett und stieß die Tür mit dem Absatz zu.
»Ich traf Etienne, als er Euch einen Imbiss bringen wollte. Da ich gerade auf dem Weg war, um mich nach Eurem Befinden zu erkundigen, habe ich seine Aufgabe übernommen.« Er stellte das Tablett neben Henri auf das breite Bett und hob die Silberhauben.
Henris Appetit wurde weder durch den Duft noch durch den Anblick der Speisen geweckt. »Danke, Vincent.« Er verfolgte, wie Vincent sich einen Stuhl zum Bett zog und darauf niederließ.
»Nun, wie fühlt Ihr Euch?«, begann er und schlug die Beine übereinander.
Henri, der sich nur zu gut daran erinnerte, wie er sich schluchzend an ihn geklammert hatte, versuchte das Gefühl der Peinlichkeit, das sich in ihm ausbreitete, zu ignorieren.
»Gut, danke. Im Gegensatz zu Elaine habe ich ja keinen körperlichen Schaden erlitten.« Er strich die Falten auf der Bettdecke glatt, um Vincent nicht ansehen zu müssen.
»Manchmal leidet die Seele größere Qualen, als es der Körper je könnte.« In Vincents Stimme schwang ein Hauch von Bitterkeit mit, der Henri nicht entging. Er wusste nicht genau, worauf Vincent anspielte, aber er konnte auch nicht länger um den heißen Brei herumreden.
»Ich habe Euch noch nicht gedankt. Eurer Umsicht und Eurem entschlossenen Handeln verdanken Elaine und ich unser Leben.« Er holte tief Luft, um weitersprechen zu können, denn jetzt kam der wirklich unangenehme Teil. »Ich habe mich Euch gegenüber oft sehr harsch und unhöflich verhalten. Der Grund dafür war, dass ich das unbegründete Gefühl hatte, Ihr schleicht Euch hier ein und führt Böses im Schilde. Der herabstürzende Kronleuchter und der durchgeschnittene Sattelgurt bestärkten mich in meiner Vermutung. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Bernard dahinter stecken könnte.«
Er blickte Vincent an, und da dieser nichts erwiderte, fuhr er fort. »In meiner Unwissenheit hatte ich Bernard sogar beauftragt, Nachforschungen zu Eurer Person und Eurer Familie anzustellen. Nach seinen Angaben war die Suche erfolglos, aber wie die Dinge liegen, hat er vielleicht gar nichts unternommen. Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass Eure Familie gefunden wird. Bis dahin könnt Ihr selbstverständlich hier bleiben und Euch wie zu Hause fühlen. Wenn es noch andere Möglichkeiten gibt, meinen Dank auszudrücken, dann nennt sie mir bitte. Wie gesagt, ich stehe tief in Eurer Schuld und bedauere mein Verhalten zutiefst.«
Vincent schwieg noch immer. Henri spielte mit dem Spitzenbesatz an den Ärmeln seines Nachthemds. Die Reaktion des Mannes erstaunte ihn. Aber da er ihn nicht drängen wollte, wartete er geduldig darauf, dass er etwas sagte. Und in diesem Moment kam ihm ein Gedanke, wie er Vincent seine Anerkennung beweisen könnte. »Ich glaube mich zu erinnern, dass Ihr gerne eine Aufgabe hättet, statt müßig in den Tag zu leben. Ich brauche unbedingt einen vertrauenswürdigen Sekretär, habe aber bisher nicht die Zeit gefunden, jemanden zu suchen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr diese Position vorläufig einnehmen. Ich würde mich sehr freuen.«
Vincent stand auf und ging zum Fenster, seine Hände hatte er in den Taschen des Justaucorps vergraben. Als er zu sprechen anfing, klang seine Stimme belegt. »Euer Misstrauen war nicht unbegründet, Euer Gnaden. Mein Name ist Vincent Brasselet. Ich bin einundzwanzig Jahre alt, und ich habe keinen Tag meines Lebens unter Gedächtnisverlust gelitten. Alles war nur eine Scharade, um mich auf Belletoile einzuschleichen, wie Ihr ganz richtig erkannt habt.«
Also doch. Die Enttäuschung, die er über diese Worte empfand, traf Henri wie ein Schlag in den Magen. Vincent war ein Betrüger, wie er es von Anfang an vermutet hatte. »Wenn es Euch nicht um mein Leben geht, worum geht es dann? Geld?«, fragte er heiser. »Eine Empfehlung für den König?«
Vincent starrte weiter aus dem Fenster. »Könnt Ihr Euch an Baptiste erinnern, den beim Holzfällen ein Baumstamm so unglücklich traf, dass sein Bein abgenommen werden musste?«
Henri runzelte die Stirn. »Natürlich. Ich habe ihn und seine Familie ein paar Mal besucht. Das muss bald zehn Jahre her sein ...«
»Es ist sieben Jahre her.« Vincent drehte sich um und kam zum Bett zurück.
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