Die Nächte der Aphrodite
kleinsten Bewegung zu zerreißen. Mein Glück war, dass Bernard unvorsichtig wurde und der Tiger seinen Arm zu fassen bekam.« Er blickte erstaunt zum Himmel, der sich rot zu färben begonnen hatte. »Es ist Sonnenuntergang. Gütiger Gott, ich hätte nicht gedacht, dass ich so lange im Zwinger war.«
Vincent richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. »Ich gehe Hilfe holen, Euer Gnaden. Bleibt hier sitzen und kümmert Euch um Elaine, falls sie wach wird.«
Henri nickte. Die Distanz, die Vincent wiederhergestellt hatte, fiel ihm nicht auf. »Natürlich, das tue ich.« Er rutschte näher zu ihr und bettete ihren Kopf auf seinem Oberschenkel. Unbewusst spielte er mit ihren seidigen Haarsträhnen und wiederholte Vincents Worte alles wird gut so oft, bis er es beinahe selbst glaubte.
26
Der Schmerz zertrümmerte Elaines Kopf. Sie wollte schreien, aber ihr Mund fühlte sich trocken und sandig an. Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Die Helligkeit schoss wie ein Blitz durch ihren Schädel. Stöhnend kniff sie die Lider zusammen.
»Elaine?« Die atemlose Stimme kannte sie nur zu gut.
»Was ist passiert, Troy? Wo bin ich?« Ein Hustenanfall unterbrach ihre Worte. »Kannst du die Vorhänge zuziehen?«
»Du bist auf Belletoile, in deinem Zimmer.«
Sie hörte, wie er die Vorhänge zuzog. »Durst«, murmelte sie und blinzelte, als er ihr ein Glas an die Lippen hielt. Kühles Wasser rann ihre Kehle hinab und brachte ihre Lebensgeister zurück.
Er saß neben ihr auf der Bettkante und sogar im Halbdunkel erkannte sie die tiefen Furchen, die sich in sein Gesicht gegraben hatten.
Die Kopfschmerzen reduzierten sich auf ein erträgliches Maß, und sie wiederholte: »Was ist geschehen?«
»Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«, fragte er zurück, und sie runzelte die Stirn. Dabei bemerkte sie den Verband, der um ihren Kopf gewickelt war.
Während sie ihn betastete, kramte sie in ihrem Gedächtnis. »Bernard sagte mir, dass Henri mich beim Tigerkäfig sprechen wollte. Aber statt Henri wartete er auf mich und dann ... dann ... weiß ich nichts mehr.«
Troy nickte. »Er hat dich niedergeschlagen. Und dich als Lockvogel benutzt, um Henri in eine Falle zu locken.« Mit wenigen Worten erklärte er den Sachverhalt und fügte hinzu: »Das war gestern Abend. Man hat dich in dein Zimmer gebracht, und du bist erst jetzt aufgewacht.«
»Du warst die ganze Zeit über hier?« Der Gedanke, dass er an ihrem Bett gesessen hatte, weil er sich Sorgen um sie machte, war neu und ungewohnt.
»Henri ließ sofort nach mir schicken. Das werde ich ihm nicht vergessen.« Er griff nach ihrer Hand und hob sie an seine Lippen. »Ich bin vor Angst fast gestorben, und ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass du wieder aufgewacht bist.«
Die unverhüllte Zuneigung in seinen Augen berührte sie wie das sanfte Streicheln einer Feder. Nur mit Mühe hielt sie seinem Blick stand. »Wie geht es ihm?«
Seine warmen Lippen fühlten sich wie Samt an. »Ich weiß es nicht, ich habe seit gestern Abend dieses Zimmer nicht verlassen.«
Henri hatte sein Zimmer ebenfalls nicht verlassen, seit er auf sein weiches Bett gesunken war. Man hatte ihm ein Bad mit Rosenöl zubereitet, das seine Anspannung gelindert und die Kälte vertrieben hatte. Danach fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlummer, aus dem er wie neugeboren erwachte. Trotzdem verbrachte er den Tag im Bett. Die Kraft, sich mit den zu erwartenden Problemen zu konfrontieren, fehlte ihm.
Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Bernard musste beerdigt werden, eine Erklärung für seine Todesursache sollte den Gästen und Dienstboten serviert werden, die Vorbereitungen für die Abreise nach Versailles standen ebenfalls im Raum.
Außerdem musste er mit Elaine sprechen und herausfinden, wie sie sich nach dem Anschlag fühlte. Eigentlich hatte er sie nach Versailles mitnehmen wollen. Es sollte eine Überraschung sein, aber jetzt war es durchaus möglich, dass sie ihn dorthin wünschte, wo der Pfeffer wuchs. Immerhin war er der Grund gewesen, warum Bernard ihr den Schädel eingeschlagen und ihr Leben in Gefahr gebracht hatte. Gut möglich, dass sie ihre Siebensachen zusammensuchen und ihn auf Nimmerwiedersehen verlassen würde.
Und dann war da noch Vincent. Nicht nur, dass er ihm Unrecht getan hatte, der Mann hatte vermutlich durch sein rasches Handeln sein Leben und das von Elaine gerettet. Er musste sich entschuldigen für seine Verdächtigungen und sein
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