Die Nächte des Wolfs 02 - Zwischen Mond und Verderben
packte ihn am Handgelenk, strich seine Finger gerade und legte meine Hand in die seine. Wütend schüttelte er sich. » Nein « , beharrte ich und hielt seinen Blick fest.
Seine Augen wanderten immer wieder zu meiner Beule, und mir war klar, dass mein Vater genau das dachte, was Pietr selbst fürchtete: dass er doch zum Monster geworden war. Dass er ein Werwolf war, spielte für meinen Vater natürlich keine Rolle. Aber dass er Russe war.
» Du hast Hausarrest « , verkündete er.
» Was? « Ich musste blinzeln. Meine Wange schmerzte.
» Kein Telefon, kein Computer, keine Besucher. Und keine Besuche. « Er ließ meine Hand los und nahm mein Gesicht in seine großen, schwieligen Hände. » Es ist mein Job, dich zu beschützen, Jessie. Was würde deine Mama sagen, wenn ich das nicht täte? Was für ein Vater wäre ich dann? «
Dass ich weinte, bemerkte ich erst, als mir die Tränen vom Kinn auf das Pyjama-Oberteil tropften. Ich schaute, ob von Annabelle Lee Unterstützung zu erwarten war. Welch Überraschung. Sie schüttelte den Kopf und verschwand.
Dad küsste mich auf die Stirn. » Jetzt geh schlafen. Alles ist gut. «
Er knipste das Licht aus, zog die Tür hinter sich zu und ließ mich im Dunkeln stehen.
Völlig schockiert.
9
V on Make-up hatte ich nie viel gehalten. Viele Mädchen an der Schule klatschten sich das Zeug eimerweise ins Gesicht, um älter zu wirken.
Statt erwachsen sahen die meisten dann einfach mies aus.
Ich dagegen fühlte mich mies. Und beim Blick auf meine Wange im Licht des Badezimmerspiegels an diesem Morgen kam ich zu dem Schluss, dass hier drastische Maßnahmen erforderlich waren. Erst einmal Abdeckcreme, dann Puder und zum Schluss Rouge, und schon sah es … nun …
Ich musterte mich im Spiegel.
Wenigstens nicht komplett nuttig.
Besser ging’s eben nicht.
Müsli essen tat allerdings so weh, dass ich mich auf eine radikale Flüssigdiät verlegte. Also zunächst einmal Kaffee und Orangensaft.
» Tut bestimmt weh « , meinte Dad.
Ich würdigte ihn keines Blickes.
» Halt dich von diesem Burschen fern « , mahnte er.
» Dad. Es ist nicht so, wie du denkst. «
» Dann sag mir, wie es ist. «
Der Bus fuhr am Ende unserer langen, holprigen Einfahrt vor. » Das werde ich. «
Der Fahrer hupte und ich rannte zur Bustür, Rucksack und Pausenbrot in der Hand, Jacke und Schal im Schlepptau.
Ich polterte die Stufen hinauf und sah Pietr am Fenster sitzen.
» Make-up? « , fragte er und hob eine Braue als ich mich neben ihn setzte.
Ich zuckte mit den Achseln und hoffte, dass er nicht weiter nachfragte.
Stattdessen lehnte er sich vor und strich ein paar Haarsträhnen beiseite. » Du bist ja verletzt « , murmelte er und sein Blick verfinsterte sich. Tief in seinem Innern brauten sich heftige Gewitter zusammen.
» Halb so wild. « Ich nahm seine Hand und führte sie über die Rundung meiner Wange. Seine zarte Berührung tat mir so gut, dass ich seufzte und ihm tief in die Augen blickte.
Sein Atem stockte, als er begriff. » Letzte Nacht. « Eine kaum sichtbare Falte zog sich über seine Stirn.
» Schon. Aber … « Ich schlug die Augen nieder. Mit welchen Worten sollte ich beschreiben, dass es nichts war – ein Kratzer, eine Beule, so unbedeutend, dass ich sie mir leicht auch bei der Arbeit auf der Farm hätte holen können …?
Heiß lag seine Hand an meinem Kinn, das er anhob, sodass ich ihm wieder in die Augen sehen musste. Ich verdrängte die Tatsache, dass am Gang gegenüber Stella Martin saß, die Gossip-Queen der Schule, zusammen mit Billy, einem Mittelstufenschüler, der offenbar versuchte, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen. Beide durchbohrten mich während unserer vertraulichen Unterhaltung fast mit Blicken.
» Ich war nicht … Ich konnte nicht … « Er zog die Brauen zusammen, was seine Augen noch dunkler erscheinen ließ. Er stieß verzweifelt die Luft aus.
» Pietr « , sagte ich vorwurfsvoll, lächelte aber. » Sonst bin’s doch ich, die um die richtigen Worte ringt. «
Er blieb ernst. » Das wäre nicht passiert, wenn … «
Es mochte an den Schlaglöchern der Straße liegen oder auch nicht, jedenfalls zitterte seine Hand, und ich legte die Finger um sein Handgelenk und versuchte, ihm Mut zu machen.
» Wenn was, Pietr? « Mir versagte die Stimme.
Sanft löste er meine Finger, ließ mein Kinn los und seine Augen leuchteten so blau wie das tiefste Stückchen Himmel. Er biss die Zähne aufeinander, kniff die Lippen zusammen und spannte die Kiefer an.
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