Die Nächte des Wolfs 02 - Zwischen Mond und Verderben
mich wieder. Warum taten die Leute nur so was? Mit der bloßen Erwähnung meiner Mutter machten sie mich völlig fertig. » Danke « , entgegnete ich trocken. Manche Dinge kamen bei mir einfach nicht mehr mit dem passenden Gefühl rüber.
Damit mussten die anderen eben fertigwerden. Oder mich in Ruhe lassen. Manchmal fragte ich mich, was mir wohl lieber war.
Das Schild an Harneks Tür glänzte und ich hielt darauf zu – trotz der Warnung der Sekretärin: » Sie ist beschäftigt … «
» Miss Terrence, Miss Terrence! « Ein paar Schüler stürmten herein und rangen mit ihren durchdringenden Kinderstimmen um Aufmerksamkeit. Die Sekretärin wurde überhäuft mit Fragen nach Dingen wie Toilettenpapier und nach Hilfe bei den Unterlagen für einen Lehrer, der Lernmaterial anfordern wollte. Außerdem mussten Fotokopien gemacht werden.
Ihr Protest ging im Tumult völlig unter, und ich ging weiter zur Tür, schob sie ein Stück weit auf. Ich wollte Harnek nicht stören, aber im irren Chaos des Sekretariats wollte ich auch nicht bleiben.
» Ich will’s aber nicht begreifen! « , zischte jemand im Raum. Durch den Spalt konnte ich einen schmalen Streifen im Innern überblicken, ohne selbst gesehen zu werden.
Harnek beugte sich vor und hielt die Aufmerksamkeit der Person, die ihr im riesigen Sessel am Schreibtisch gegenüber saß, gebannt. » Du musst. Ob du nun willst oder nicht – du musst. Ansonsten … « Sie schüttelte den Kopf. » Du weißt schon. «
Statt einer Antwort war ein tiefes Seufzen zu hören. Dann lenkte der – männliche – Gesprächspartner mit leiser Stimme ein. » Wenn’s absolut notwendig ist. «
» Das ist es. «
Ich klopfte an die Tür, die sich mit jedem leichten Knöchelschlag etwas weiter aufschob.
» Jessie! « Harnek setzte sich kerzengerade auf, lächelte und rang die Hände. » Komm rein. Maloy hat gesagt, dass du mich aufsuchen wirst. Von jetzt gleich hat er allerdings nichts gesagt.
» Ist es jetzt unpassend? «
» Nein, neiiin. Wir waren ohnehin gerade fertig, nicht? «
Leder knarzte. Aus dem glänzenden Sessel tauchte Derek auf, und entgegen meiner Erwartung kein bisschen gestresst.
» Yeah. Hey, Jessica. « Ein Lächeln – ein Leuchten strahlte über sein ganzes Gesicht. Es wirkte so natürlich bei ihm. Ich musste es einfach erwidern. Mit einem Blick auf Harnek meinte er: » Danke für die Zeit, die Sie sich genommen haben. «
» Für dich doch immer, Derek « , erwiderte sie. » Jessie. Setz dich. «
Derek zwängte sich an mir vorbei, blieb aber stehen und sah mir tief in die Augen. Er legte die Hand auf meinen Arm, kam mit seinem Gesicht näher und lächelte.
Mir stockte der Atem, ich war wie hypnotisiert.
» Schön, dass wir uns hier in die Arme laufen « , flüsterte er und strich mit seinen strahlend blauen Augen über mein Gesicht.
» Derek, wir sehen dich dann später « , ließ sich Harnek mit Nachdruck vernehmen.
Seine Grübchen verschwanden und er nickte.
Ich musste sehr an mich halten, um ihm nicht nachzustarren, und sank mit roten Wangen in den Sessel.
» Du hast also Albträume? «
Ich nickte.
» Erzähle mir davon. Und keine Sorge. Ich bin da ganz unvoreingenommen. Ganz egal wie schräg oder gruselig, schieß einfach los. «
Sie legte ihre Füße, die in hohen Pumps steckten, lässig auf dem Schreibtisch ab und machte sich’s für eine lange Geschichte bequem. Junge, hab ich der die Ohren vollgequatscht.
Derek fing mich am Nachmittag kurz vor dem Bus ab. Eine schummrige Ecke gab es nicht. Er schob mir den Rucksack von der Schulter, schlang die Arme um mich und küsste mich so leidenschaftlich, dass ich die Augen aufriss, aber so erkannte ich, wer mich da küsste, und ich schloss sie, damit ich es wieder vergaß.
Dabei küsste er gar nicht schlecht … Ganz bestimmt nicht. Aber trotzdem … schon bald bewegte sich mein Mund nicht mehr im Einklang mit seinem.
Ich wollte Derek nicht.
Doch so schnell der Gedanke gekommen war, so rasch war er wieder verflogen, und mein Kopf war voller Bilder von Pietr. Wie er Sarah hielt. Sarah küsste und nur Augen für Sarah hatte.
Und ich erwiderte Dereks Kuss. Nicht Pietrs. Dereks. Den Inbegriff des netten Nachbarsjungen mit dem blonden Haar und dem Duft nach Sonne, die ein Weizenfeld wärmt. Er setzte einen Moment ab, die Augen wegen der geweiteten Pupillen so dunkel, dass fast alle Farbe aus ihnen gewichen war.
Meine Knie zitterten, als er einen letzten, langen Kuss auf meinen Lippen platzierte, meinen
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