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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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sich, warum er nicht einmal bei so einer herrlichen Bootsfahrt an einem warmen Morgen und auf ruhigem, schimmerndem Wasser ein freundliches Gesicht machen konnte. Irgendwann drückte sein Vater eine Zigarette aus und sagte so etwas wie: »Okay, ziehen wir die Köder auf.« Dann schwieg er manchmal wieder stundenlang, bis ein Schnapper oder Wahoo anbiss und er Will Befehle zubrüllte.
    Beim Überqueren der City Island Bridge warf Will einen Blick in Richtung Eastchester Bay. Als der erste Yachthafen in Sicht kam, ein Wald aus Aluminiummasten, die in der steifer werdenden Nachmittagsbrise schaukelten, musste er an seinen Alten Herrn denken. City Island war eine kleine, seltsame Oase. Verwaltungstechnisch war sie ein Teil der Bronx, aber sowohl von ihrer Lage als auch vom äußeren Erscheinungsbild her wirkte sie eher wie eine Art Phantasie-Insel, ein Stück Land, das seine Besucher an andere Orte und andere Zeiten denken ließ, so sehr unterschied es sich von der Stadt auf der anderen Seite des Brückendamms.
    Für die Siwanoy-Indianer war die Insel jahrhundertelang ein ergiebiger Jagdgrund gewesen, an deren Stränden sie Fische gefangen und Austern geerntet hatten, den europäischen Siedlern hatte sie als Werftgelände und Ankerplatz gedient, und mittlerweile war sie eine mit bescheidenen Einfamilienhäusern, aber auch mit prachtvollen viktorianischen Villen der alten Seefahrer bebaute Enklave der Mittelschicht, deren Küste Yachtclubs für reiche Städter säumten. Mit ihrem Gewirr kleiner Straßen, einige davon fast Feldwege, den zahllosen, am Meer endenden Sackgassen, dem unaufhörlichen Schreien der Möwen und dem Salzgeruch der See ließ sie eher an Urlaub oder Kindheitserinnerungen denken als an eine Metropole.
    Nancy sah, wie er sich erstaunt umsah. »Sind Sie schon mal hier gewesen?«, fragte sie.
    »Nein, Sie?«
    »Als ich ein Kind war, sind wir immer zum Picknicken hierhergekommen.« Sie warf einen Blick auf den Stadtplan. »An der Beach Street müssen Sie links abbiegen.«
    Die Minnieford Avenue war keine Avenue in klassischem Sinn, sondern eher ein Karrenweg, und auch sie war für polizeiliche Ermittlungen denkbar ungeeignet. Polizei-und Notfallfahrzeuge sowie die Übertragungswagen der Fernsehsender verstopften die Straße. Will fuhr ans Ende der langen Schlange hoffnungslos im Stau steckender Autos und beklagte sich bei Nancy, weil sie den restlichen Weg zu Fuß gehen mussten. Als er den Wagen abstellte, blockierte er eine Einfahrt und rechnete mit einem Anpfiff von dem kräftig gebauten Mann im Muskelshirt, der ihn von der Haustür aus musterte. Aber dann rief der Typ nur: »Sind Sie im Dienst?«
    Will nickte.
    »Ich war beim NYPD, jetzt im Ruhestand«, erklärte der Mann. »Keine Sorge. Ich pass auf den Explorer auf. Ich muss nirgendwohin.«
    Die Buschtrommeln waren laut und schnell gewesen. Jeder Ordnungshüter samt seiner buckligen Verwandtschaft wusste, dass der Doomsday-Killer auf City Island zugeschlagen hatte. Die Medien hatten ebenfalls einen Tipp erhalten, was die allgemeine Hysterie noch erhöhte. Das kleine, lindgrüne Haus war von einem Schwarm Journalisten und einem Kordon Cops vom 45. Revier umgeben. Fernsehleute rangelten auf dem Gehsteig um die besten Plätze, damit ihre Kameramänner sie vor dem Haus filmen konnten. Ihre Hemden und Blusen bauschten sich wie Schiffsflaggen in dem steifen Westwind, während sie ihre Mikrophone hielten.
    Als Will einen ersten Blick auf das Haus warf, sah er unwillkürlich die Fotos vor seinem inneren Auge, die bald in alle Welt verbreitet werden würden, sollte sich herausstellen, dass dies der Ort war, an dem der Mörder gefasst worden war. Das Doomsday-Haus. Ein bescheidenes, einstöckiges Gebäude mit verzogenen Holzschindeln, Fensterläden, von denen die weiße Farbe abblätterte, und einer durchhängenden Veranda, auf der zwei Fahrräder, Plastikstühle und ein Grill standen. Der Garten war nicht der Rede wert – jemand, der halbwegs bei Puste war, konnte sich aus dem Fenster beugen und die Häuser anspucken, die links und rechts und auf der Rückseite standen. Der Parkplatz reichte gerade mal für zwei Autos – ein beigefarbener Honda Civic war zwischen das Haus und den Maschendrahtzaun des Nachbargrundstücks gezwängt, ein älterer roter BMW aus der Dreierserie stand zwischen der vorderen Veranda und dem Gehsteig, wo vielleicht einmal ein Stück Rasen gewesen war.
    Will warf einen Blick auf seine Uhr. Der Tag war schon lange genug gewesen, und

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