Die Namen der Toten
die Leute seiner Abteilung von der Mittagspause zurückkommen, und er wollte kein Risiko eingehen. Vorsichtig steckte er seinen selbstgebastelten Memorystick auf die USB-Schnittstelle an seinem Computer.
Er dauerte nur ein paar Sekunden, dann hatte er die mit der neuesten Verschlüsselungstechnik gesicherte US-Datenbank auf seinen Flash-Speicher heruntergeladen. Als das geschehen war, verwischte er gekonnt seine Spuren, löschte das Tarnprogramm und startete gleichzeitig wieder sein Aufspürprogramm. Zu guter Letzt löste er den Metallstecker von der grauen Patrone und lötete ihn wieder an das USB-Kabel. Als alle Komponenten wieder in seinem Schreibtisch verstaut waren, öffnete er die Tür, schlenderte so lässig wie möglich zur Materialkammer und brachte den Lötkolben zurück.
Als er sich vom Regal in der Kammer abwandte, versperrte ihm Elvis Brando breitschultrig und arrogant den Weg. Er stand so dicht vor ihm, dass Mark seine Chilifahne riechen konnte.
»Hast du das Mittagessen sausenlassen?«, erkundigte sich Elvis.
»Ich glaube, ich habe mir einen Magen-Darm-Virus eingefangen«, sagte Mark.
»Vielleicht solltest du lieber zum Arzt gehen. Du schwitzt wie ein Schwein.«
Mark fasste sich an die feuchte Stirn und stellte außerdem fest, dass sein Overall unter den Achselhöhlen schweißnass war.
»Wird schon nicht so schlimm sein.«
Eine halbe Stunde vor Feierabend begab sich Mark ein weiteres Mal auf die Herrentoilette und schloss sich in einer leeren Kabine ein. Er zog zwei Gegenstände aus der Hosentasche seines Overalls: Es waren der patronenförmige Flash-Speicher und ein zusammengeknülltes Kondom. Er steckte die Plastikpatrone in das Kondom und streifte den Overall herunter. Dann biss er die Zähne zusammen und schob sich das größte Geheimnis auf diesem Planeten in den Hintern.
Abends saß er auf dem Sofa und verlor jedes Zeitgefühl, während er mit brennenden Augen auf den Bildschirm seines Laptops starrte. Er nahm sich die erbeutete Datenbank vor, mischte die Dateien wie bei einem Kartenspiel, überprüfte sie mehrmals, legte handschriftliche Listen an und überarbeitete sie so lange, bis er endlich zufrieden war.
Er machte sich keinerlei Sorgen über mögliche Folgen – sein Computer hatte einen Hacker-Schutz, den auch die Aufpasser vom Groom Lake nicht knacken konnten, selbst wenn er online wäre. Obwohl er lediglich Hände und Finger bewegte, war er vor Anstrengung außer Atem, als er fertig war. Seine eigene Kühnheit begeisterte ihn – er hätte am liebsten mit seiner ebenso dreisten wie gewitzten Tat vor jemandem geprahlt.
Als Junge war er immer zu seinen Eltern gelaufen, wenn er eine gute Note bekommen oder ein mathematisches Problem gelöst hatte. Seine Mutter war inzwischen an Krebs gestorben. Danach hatte sein Vater eine Frau geheiratet, die Mark nicht mochte; außerdem war er nach wie vor bitter darüber enttäuscht, dass sein hochbegabter Sohn bei einer guten Firma wegen eines Jobs bei der Regierung gekündigt hatte. Sie redeten kaum noch miteinander. Das hier war allerdings ohnehin eine Sache, von der man wirklich keiner Menschenseele etwas erzählen durfte.
Plötzlich schoss ihm eine Idee durch den Kopf, die ihn vor Vergnügen zum Kichern brachte.
Warum nicht?
Wer sollte es schon erfahren?
Er schloss die Datenbank, sicherte sie mit einem Passwort und öffnete die Datei, die sein erstes Drehbuch enthielt, seine von Thornton Wilder inspirierte Ode an das Schicksal, die von der kleinen Kröte in Hollywood abgelehnt worden war. Er scrollte durch das Manuskript, nahm Veränderungen vor und jubelte jedes Mal auf, wenn er Suchen & Ersetzen anklickte, als wäre er ein ungezogener Junge, der ein böses Geheimnis hat.
23. Juni 2009 – City Island, New York
Als Kind hatte Wills Vater ihn immer zum Angeln mitgenommen, weil sich das für Väter so gehörte. Er wurde vor Anbruch der Dämmerung durch ein Schulterrütteln geweckt, zog sich an und stieg in den Pick-up, mit dem sie von der im Norden Floridas gelegenen Stadt Quincy runter nach Panama City fuhren. In einem Yachthafen für einfache Leute mieteten sie für ein paar Stunden ein acht Meter langes Boot, mit dem sie zehn Meilen weit in den Golf hinaustuckerten. Auf der Fahrt von Wills dunklem Schlafzimmer zu den funkelnden Angelgründen wurde nicht viel gesprochen. Später sah Will zu, wie sein Vater, dessen massige Gestalt von der aufgehenden Sonne in orangefarbenes Licht getaucht wurde, das Boot steuerte, und fragte
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