Die namenlose Schoene
habe meinen Sohn und meine Frau verloren, und ich will nie wieder für Menschen so viel empfinden!” Jetzt konnte er seinen Schmerz nicht länger verbergen.
„Was heißt, du hast sie verloren?”
Ohne daran zu denken, dass er noch nie mit jemandem darüber gesproche n hatte, fuhr er fort: „Denise hasste meine Arbeit als verdeckter Ermittler, aber ich hielt diese Arbeit für nötig. Ich sagte mir, mein Vater wäre stolz auf mich gewesen.”
Er schüttelte den Kopf, weil er wusste, dass er sich etwas vorgemacht hatte.
„Nach Chads Geburt lief unsere Ehe besser. Dann musste ich aber wieder tagelang ohne Unterbrechung arbeiten. Wir redeten kaum noch miteinander.
Bei einem meiner letzten Einsätze meldete ich mich nicht wie sonst bei Denise. Ich konnte es nicht. Wir warteten darauf, zuschlagen zu können.
Sie hinterließ für mich eine Nachricht, die mich aber nicht erreichte. Chad war krank geworden.”
Er stockte.
„Sie brachte ihn mitten in der Nacht ins Krankenhaus.
Hirnhautentzündung. Als ich endlich die Nachricht erhielt und im Krankenhaus eintraf, war er schon tot. Gestorben mit drei Jahren, weil mir die Arbeit mehr bedeutete als meine Ehe. Ich war nicht da, als meine Familie mich brauchte. Denise gab mir die Schuld … und ich mir auch.
Unsere Ehe hat das nicht überstanden.”
„Tucker …”
„Ich will kein Mitleid, Emma. Du hast mich nach meiner Ehe und dem Bild gefragt. Jetzt weißt du Bescheid. Ich fahre jetzt weg und räume hinterher hier auf.”
Er griff nach Jacke und Hut und ging, bevor sie etwas sagen konnte. Er wollte nicht, dass sie ihn so hart verurteilte wie er sich selbst. Er musste weg von Emma und den schlafenden Zwillingen.
Im Lauf der Jahre war ihm bewusst geworden, was er verlo ren hatte. Und diesen Schmerz wollte er nie wieder erdulden.
Am nächsten Tag sorgte Emma sich um Tucker, während sie sich um die Zwillinge kümmerte, am Computer arbeitete und dann das Abendessen vorbereitete. Letzte Nacht war er gegen zwei Uhr heimgekommen. Am Morgen war er bereits um sechs Uhr wieder weggefahren. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, wenn sie ihn traf. Er litt schon seit Jahren, und sie hatte manchmal den Eindruck, dass sie und die Zwillinge seinen Schmerz nur noch verstärkten.
Die Enthüllungen des gestrigen Abends hatten sie sehr traurig gemacht.
Dabei ging es ihr nicht nur um Tucker. Sie hatte zusätzlich etwas begriffen. Mochte sie ihn auch lieben, würde er sich niemals erlauben, sich in sie zu verlieben.
Als er gegen vier Uhr anrief, war sie froh, seine Stimme zu hören, obwohl er ziemlich schroff sagte: „Ich komme zum Abendessen nicht nach Hause, Emma.”
Sie hätte gern gewusst, ob er arbeiten musste oder ihr auswich.
Irgendwann mussten sie miteinander reden, ob es ihm ge fiel oder nicht. Er verschloss alles schon viel zu lange in sich, weil er das für das Beste hielt.
Sie war jedoch anderer Meinung, wollte ihn aber nicht bedrängen.
„Schon gut, Tucker”, erwiderte sie. „Ich mache Suppe. Sie steht bereit, wenn du heimkommst.”
Er bedankte sich rasch und legte auf. Sie musste ihm Ruhe gönnen. Er musste ihr sein Herz öffnen, sofern darin trotz aller Erinnerungen noch Platz war.
Um neun hatte sie soeben die Kinder ins Bett gebracht, als sie Geräusche aus dem Erdgeschoss hörte. Tucker war in der Küche. Die Mikrowelle lief. Emma bürstete in ihrem Zimmer das Haar, holte tief Atem und ging nach unten.
Zu ihrer Überraschung aß Tucker nicht in der Küche, sondern saß mit einer Tasse Kaffee auf dem Sofa. Neben dem Kaffee stand Kräutertee. Auf einem Teller lagen Muffins und Plätzchen.
„Was soll das?” fragte sie leise.
„Ich dachte, nach dem Tag mit den Kindern könntest du eine Tasse Tee brauchen.”
Sie machte sich oft selbst Tee, wenn sie die Kinder nach oben gebracht hatte. Offenbar hatte er das bemerkt. „Danke.”
Zwischen ihnen knisterte Spannung, als Emma sich neben Tucker auf das Sofa setzte und auf Abstand achtete.
Sie spielte mit dem Teebeutel, holte ihn schließlich heraus und legte ihn auf den Teller. „Hast du schon gegessen?”
„Ich hatte keinen Hunger.”
Er wirkte erschöpft, hatte die Krawatte abgenommen und den Hemdkragen geöffnet. Dunkle Härchen kamen darunter zum Vorschein.
Er war ein starker Mann, doch im Moment schien ihm die Last zu viel zu werden.
„Ich habe gute Neuigkeiten”, sagte er jedoch nur.
„Über Josie?”
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Erinnerst du dich an den Mann, der dachte, du
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