Die Nanowichte
entrüstet. Sie zahlten schon jetzt horrende Summen, den sogenannten Immunitätszuschlag, an das Amt für Natürliche Ordnung, einen mittels undurchschaubarer Rechenoperationen festgesetzten, monatlich zu entrichtenden Betrag. Wurde dieser Immunitätszuschlag pünktlich und vollständig bezahlt, dann verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, daß der Besitz des Beitragszahlers (oder auch der Beitragszahler selbst) Schaden erlitt. Und sie verringerte sich interessanterweise um so mehr, je höher die monatliche Beitragsrate war. Wenn, wie gesagt, pünktlich gezahlt wurde …
»Und hinter all dem steckt er!« krächzte Quintzi. Er schmatzte mit den Lippen, das Verlangen nach einem weiteren Schuß Magie meldete sich wieder. »Wenn Sie Guldenburg auch weiterhin seiner Amtsgewalt überlassen, dann wird Ihre Zukunft ein Jammertal sein, ein Tal der Tränen, der Schmerzen und des Leids!«
Wie eine aufgewühlte See bei Windstärke zehn stürmte die Menge auf die Treppe vor dem Rathaus zu, fuchtelte wütend mit den Fäusten ( … und die Fäuste waren wie Schaumkronen auf den Wellen) und schrie ( … und das Geschrei war ohrenbetäubend wie das Tosen der Wasser).
Und mitten hinein in diese brandende maritime Analogie schritt Quintzi, die Kapuze tief ins alternde Gesicht gezogen wie ein greiser Prophet, der um das Geheimnis der Rose wußte und daß ihr Name sich reimte mit ›throse‹. Hoch erhob er die Hände, gebot Einhalt den Fluten und sprach mit einer Stimme, die auf irgendeine Weise ein jeder vernehmen konnte, und sagte: »Falls es jemanden interessieren sollte: Es gibt natürlich auch eine Alternative zu dieser grauenvollen Zukunft.«
Mit größtem Vergnügen hätte Überwachtmeister Strappado immer weiter – und gern auch bis spät in die Nacht hinein – Ryffel den Schädel an die Wand im Zellentrakt des Amtes für Natürliche Ordnung geschlagen, nachdem der ihm seine Theorie von den metamorphisch und magisch begabten Serienmördern erläutert hatte. Ein Wachtmeister, der eine dringende Eilmeldung überbrachte, hinderte ihn daran.
»Unruhen auf dem Rathausplatz«, stotterte der Wachtmeister. Er zuckte zusammen, als er Ryffels Stirn sah, die scheußlich blau anlief. »Fast schon ein richtiger Aufstand, Chef!«
»Und wenn schon! Ich bin beschäftigt!« Strappado betonte jedes seiner Worte, indem er Ryffels Stirn immer wieder gegen die Wand schlug. »Interessiert mich nicht.«
»Aber … Die sind kurz davor, den Bürgermeister zu lynchen, Chef!«
»Sehr schön. Höchste Zeit, daß dieser nichtsnutzige Schmarotzer endlich kriegt, was er verdient hat. Und jetzt die schlechte Nachricht!«
»Äh …« Der Wachtmeister kratzte sich den Kopf. »Dem Bürgermeister geht’s ganz gut, Chef.«
»Was?«
»Ja, also, Chef, im Augenblick geht’s ihm noch ganz gut. Die Menge wollte ihn zwar in Fetzen reißen, wurde aber davon abgehalten von so einem … von so einem kleinen Dicken, ziemlich jung noch, braune Haare und …«
»Chef!« wimmerte Ryffel verzweifelt. »Das ist er! Das ist der, der sich in einen Papagei verwandelt hat!«
»Papagei? Ist was nicht in Ordnung mit ihm?« fragte der Wachtmeister.
»Das ist er! Ich sage Ihnen, das ist er!« Ryffel bestand darauf. »Und … und der Bürgermeister ist als nächster dran!«
»Bist du sicher?« Strappado riß ihn herum.
»Ja. Die Beschreibung paßt …«
»Nein. Ich meine, bist du sicher, daß der Bürgermeister als nächster dran ist?«
Ryffel nickte heftig.
Strappados Miene hellte sich beträchtlich auf. »Schööön, sehr, sehr schön. Das darf ich auf keinen Fall versäumen. Ruf die Wachen zusammen!« befahl er. »Alle, das komplette Überfallkommando. Ich will einen Platz in der ersten Reihe!« Er kicherte begeistert und sauste aus der Zelle.
Hogshead hetzte durch die verwaisten Straßen von Guldenburg. Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten und hatte längst schon den Überblick verloren, wie oft er über einen wackligen Pflasterstein gestolpert, quer über die eine oder andere Straße gesegelt, gegen eine Mauer geprallt oder in einer äußerst unappetitlichen Pfütze gelandet war. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin er eigentlich lief. Aber das war auch das letzte, was ihn bekümmert hätte – Hauptsache, er entwischte seinen Verfolgern. Und es sah ganz so aus, als hätte er Glück: Seit seinem Ausbruch aus dem Gefängnis hatte er keinen Wachmann mehr gesehen.
Plötzlich hörte er Reifen quietschen, hörte Geschrei und wilde Flüche
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