Die Narbe
hinaus. Gerald müsste einen Staatsanwalt einschalten, und dieser würde nach der derzeitigen Aktenlage nur müde lächeln und fragen, ob sich Geralds Dezernat mangels Auslastung die Fälle schon erfinden müsse. Nein, er musste anders vorgehen.
Eine Stunde später, als der Stapel vor ihm um eine Handbreit geschrumpft war, kam ihm eine Idee. Eine waghalsige Idee. Aber mit ein wenig Glück realisierbar, auch wenn er auf einem schmalen Grad balancieren würde.
Batzko hatte die Visitenkarte des Therapeuten am Vortag in den Papierkorb geworfen, doch Gerald erinnerte sich an den französischen Nachnamen. Die Telefonnummer ermittelte er im Internet-Branchenbuch. Als Batzko wenig später zu einem Kollegenplausch in den zweiten Stock ging, griff Gerald kurzerhand zum Hörer.
Nach dem vierten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Dies ist die Nummer von Dr. Dirk Chateaux, Arzt und Psychotherapeut. Im Moment bin ich leider …« Ein erneuter Knacks in der Leitung. »Ja, hallo?«
»Dr. Chateaux? Sind Sie es selbst?«
»Wirklich und leibhaftig. Wollen wir das nicht alle? Wirklich, leibhaftig, lebendig sein? Wenn Sie allerdings lieber mit meiner Automatenstimme sprechen wollen, weil sie eine beruhigende Wirkung auf Sie hat, Ihnen weniger Angst einjagt, Ihnen keine unbequemen Fragen stellt, dann kann man das natürlich auch arrangieren.«
Ein sehr leises, ironisches Lachen schwebte in Geralds Ohr. Hoch, beinahe feminin wie auch die Stimme des Arztes. Was war das nur für ein Typ? Gerald war aus dem Tritt gebracht. Er räusperte sich, um Zeit zu gewinnen.
»Nein. Verzeihung, ja, ich meine, ich möchte natürlich mit Ihnen selbst sprechen, Herr Dr. Chateaux.«
»Dann tun Sie es einfach.«
»Natürlich. Gerne.« Gerald hörte sich selbst sprechen, wie auf Autopilot. Er wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. »Es ist so, dass ich mir überlege, einmal mit einem Therapeuten zu sprechen. Ich habe einige Probleme in letzter Zeit, und ich dachte, ein Arzt wie Sie …«
»… könnte sie Ihnen wegnehmen wie ein lästiges Muttermal oder einen Pickel oder ein Magengeschwür?«
»Ja. Ich meine natürlich: nein. Sicher nicht.« Gerald fühlte sich wie ein Erstklässler im Zimmer des Direktors, der, obwohl unschuldig, bestraft werden würde, weil er sich nicht zu verteidigen wusste.
»Gut. Sehr gut. Es geht nämlich zunächst um Ihre Erwartungshaltung. Eine Therapie zaubert keine Probleme weg, zuerst einmal ändert sie Ihre Sichtweise auf das, was viele Menschen mit dem Begriff ›Problem‹ bezeichnen und dadurch zu etwas Feindlichem machen, das in ihrem Leben nichts zu suchen hat. Ein so genanntes Problem sehe ich ganz neutral als die Materialisierung einer psychischen Konstitution, die man genauer betrachten sollte.«
»Ich verstehe.« Dabei verstand er gar nichts. Warum hatte dieser Arzt nicht einfach eine Sprechstundenhilfe, die einem schlicht und einfach einen Termin gab?
Als hätte Dr. Chateaux seine Gedanken gelesen, sagte er: »Wir können uns gerne einmal zu einem unverbindlichen Gespräch bei mir treffen. Wann passt es Ihnen denn?«
»Eigentlich jeden Tag, am späten Nachmittag am besten.«
»Lassen Sie mich einmal sehen.« Eine kleine Pause entstand, in der Gerald ein leises Rascheln vernahm, als würde Dirk Chateaux in einem Kalender blättern. »In nächster Zeit geht es eigentlich nur heute, um siebzehn Uhr, weil ein Patient eine Stunde absagen musste. Können Sie das einrichten?«
Die Stimme des Arztes klang verändert, glatter und geschäftsmäßiger. Zum ersten Mal fühlte sich Gerald auf halbwegs sicherem Boden. Krankheit gleich Arzt gleich Terminvereinbarung.
»Das geht. Um siebzehn Uhr bei Ihnen also.«
Gerald fuhr in langsamem Tempo durch Bogenhausen. Wer in diesem Viertel wohnte, besaß neben seinem Geld normalerweise auch eine gewisse Diskretion, es nicht auf spektakuläre Weise auszustellen.
Er parkte gegenüber dem Anwesen des Therapeuten in der Ebersberger Straße und beschloss, da er noch etwas Zeit hatte, Haus und Grundstück genauer zu betrachten. In Chateaux’s Garten standen stumme Zeugen baulicher Aktivitäten. Gerald sah einen Bagger, daneben einen über zwei Meter hohen Erdhügel sowie eine Zementmischmaschine und weitere Gerätschaften. Auf einem in den Boden gepflockten Schild war ein Firmenname zu lesen, darunter »Schwimmbecken, Pools«.
Gerald schlenderte zurück zur Hausfront. Der Vorgarten bestand aus gepflegtem Rasen, der lediglich an den Grenzen zum
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