Die Narbe
Mauer ab, fand aber nichts weiter, außer zwei Kronkorken und Zigarettenkippen in der Ecke neben dem Fahrradstellplatz. Dann stellte er sich auf die Kommode, zog sich hoch und schaute in den Innenhof des gegenüberliegenden Mietshauses, der viel größer war und in dem vier Autos parkten. Über diesen Innenhof zu flüchten wäre ein Kinderspiel für jemanden, der nicht ganz unsportlich war.
Gerald sprang wieder von der Kommode hinunter, rieb die Handflächen gegeneinander und ging langsam zurück. Einen Blick in diesen Innenhof hatte man lediglich aus zwei Fenstern mit nikotingrauen Gardinen; es musste sich um das Schlafzimmer von Müllersohns Wohnung handeln, der zum Zeitpunkt des Geschehens im Wohnzimmer gesessen hatte, vor dem Fernseher mit dem Geräuschpegel eines startenden Düsenflugzeugs.
In seinem Postfach lag der Bericht der Gerichtsmedizin. Als Gerald die Mappe öffnete, fiel sein Blick sofort auf die Fotografien. Fünf von ihnen zeigten Kopf und Körper von Alexander Faden. Er war auf dem Hinterkopf aufgeschlagen, sein Gesicht war das eines Schlafenden. Eines hübschen, sympathischen Schlafenden: blonde, mittellange, leicht gewellte Haare, eine schmale, sehr gerade Nase und ein sensibler Mund. Ein dünner, kurzer Kinnbart, wie er besonders bei jüngeren Männern Mode war. Ein Ring am linken Ohrläppchen. Er wirkte jünger als siebenundzwanzig. Größe: 178 cm. Gewicht: 74 kg.
Zwei Fotos zeigten ausschließlich den Armstumpf. Der Arzt hatte Recht: die Nähte sahen aus wie Strahlen, sicher fünf Zentimeter lang, die von ihrem Zentrum in alle Richtungen gingen. Wie Sonnenstrahlen. Es war offensichtlich, dass diese Narben keiner chirurgischen Notwendigkeit entsprachen. Ein Gefühl der Fremdheit umfing ihn.
Gerald stand am Fenster und betrachtete den ruhigen Verkehr. Er sah die ersten Gruppen von Angestellten, die in der Mittagspause in Richtung Fußgängerzone liefen, die Schulkinder, die an den Bushaltestellen warteten. Manche hatten sich von den Jacken und Pullovern, die ihnen überbesorgte Mütter am Morgen angezogen hatten, befreit und über den Schulranzen gelegt. Da standen sie, in kurzärmeligen Hemden oder bunten T-Shirts. Gerald sah ihre dünnen, unversehrten Kinderarme, wie sie einander an den Schultern fassten oder sich schubsten.
Es war kein Unfall, hatte Marleen Kattowitz behauptet. Auch keine Krankheit. Dann hatte sie geschwiegen, obwohl sie mehr hätte sagen können. Was war es also? Ein neuer Körperkult? Eine sadistische Sekte?
Ein leichtes Knallen riss Gerald aus seinen Gedanken. Batzko war zurückgekehrt und hatte eine Mappe auf den Schreibtisch geworfen. Er grinste seinen Kollegen an, forderte ihn durch eine Handbewegung zum Kampf heraus, tänzelte und versetzte der Luft tödliche Haken und Geraden.
»Am Ende war’s eine Weibergeschichte«, sagte Batzko. Er brach das Schattenboxen ab und kontrollierte, ob sich nicht etwa Schweißflecken unter den Achseln gebildet hatten. »Der eine hat behauptet, die Freundin des anderen wäre irgendwie im Sex-Business beschäftigt. Der andere mit mehr Promille als Blut in den Adern haut irgendwann zu. Der andere zurück. Jochbeinbruch, Augapfelprellung auf der einen, schwere Prellungen auf der anderen Seite. Und keiner versteht, warum ich da auftauche. Nun drehen sie es so, dass sie sich kaum noch erinnern, wer angefangen hat und überhaupt. Die kennen unser Business: Die sagen so oft ›Weiß nicht mehr‹ und ›Eigentlich ist er mein Freund‹, bis der Staatsanwalt das Verfahren einschlafen lässt.«
Damit nahm Batzko den Kampf gegen seinen Aktenstapel wieder auf und zerkaute seine Unterlippe. Gerald ließ den Bericht der Gerichtsmedizin unauffällig im Schreibtisch verschwinden. Aber die Bilder des Armstumpfes blieben in seinem Kopf. Wie konnte er vorgehen? Marleen Kattowitz würde ihr Schweigen so leicht nicht brechen, vermutlich hatte sie es Alexander Faden hoch und heilig versprochen. Gerald brauchte mehr Informationen, am besten von der unbekannten Freundin, die einige Wochenenden mit ihm verbracht hatte. Sie würde mit Sicherheit mehr wissen als die Kommilitonen, mit denen er gearbeitet hatte. Sie ausfindig zu machen würde mühsam sein. Aber eine Person gab es, die für Gerald greifbar war: der Psychotherapeut. Nur hatte Batzko in seiner typischen »Ein-Anruf-und-der-Fall-ist-erledigt«-Mentalität den Weg zugemauert. Die ärztliche Schweigepflicht, auf die der Therapeut sich bereits im Telefonat berufen hatte, galt zudem über den Tod
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