Die Narbe
Nachbargrundstück und zur Garagenauffahrt mit hüfthohem Liguster bepflanzt war. Fünf Stufen führten zur Haustür, die für Geralds Geschmack viel zu wuchtig geraten war: weiß mit zahlreichen Verzierungen und an den Längsseiten eine Linie von quadratischen Glasausschnitten. Sie wirkte wie ein Fremdkörper in der Einfachheit des Einfamilienhauses, wie das Attribut eines Neureichen, der durch diese wuchtige Haustür und den Bau eines Swimmingpools auf den hohen Stand seines Bankkontos hinweisen wollte. Und sogleich wurde ihm der Therapeut um einige Grade unsympathischer.
Der sanfte Klingelton hallte noch im Haus, als die Tür bereits geöffnet wurde. Gerald stand vor einem kleinen, sehr schlanken Mann mit einem exzentrischen Kleidungsstil: Jeans, weißes Hemd, eine knallrote Fliege und eine kunterbunte, legere Strickjacke. Das Gesicht wurde beherrscht von einem gestutzten Vollbart, in dem die ersten grauen Haare nisteten. Er hatte große, dunkelbraune Augen, die Gerald mit einem konzentrierten Blick musterten. Die Haare reichten weit über die Schultern und waren zu zwei Zöpfen gebunden. Zwei akkurat geflochtene Zöpfe. Wer ist das?, dachte Gerald irritiert: weißes Hemd und Fliege, die nach eleganten Schuhen verlangten und nicht nach den abgewetzten Hausschlappen, die er trug. Ein Bart und Mädchenzöpfe, die mit Haushaltsgummis fixiert waren. Nichts passte zusammen, und gleichzeitig schien dieses Arrangement bewusst gewählt.
»Verzeihung. Dr. Chateaux?« Gerald bemühte sich, ruhig und entspannt zu klingen.
Der Mann antwortete nicht, sondern öffnete, ohne seine Position zu verändern, die Tür links von Gerald. Zwei weitere Türen gingen von der kleinen Diele ab: auf der rechten Seite eine, die durch ein entsprechendes Schild als WC gekennzeichnet war, und eine Tür genau hinter dem Mann, die zum eigentlichen Wohnbereich führen musste.
Gerald betrat ein Zimmer, das sich zumindest in einem Element von einem normalen Arztzimmer unterschied: Hier fehlte der klassische Geruch nach Desinfektionsmitteln. Zwei Wände waren mit Bücherregalen bis zur Decke versehen, die in ihrer Schlichtheit nicht recht zu dem mächtigen Mahagoni-Schreibtisch passten. Gerald sah auf die Rücken mehrerer Fotorahmen, die in einem Halbkreis um die Schreibtischmitte angeordnet waren. Die Unterlage wiederum war aus durchsichtigem Plexiglas, die üblichen Schreibtischartikel aus glattem Metall oder Chrom. An der Wand hinter dem Schreibtisch hingen zwei Drucke von Chagall und, hinter Glasrahmen, mehrere bunte Kinderzeichnungen, die einen Jungen und ein Mädchen zeigten, die durch die Lüfte flogen. Unter ihnen eine Wiese und ein See mit tiefblauem Wasser.
Auf der linken Seite vom Schreibtisch befand sich die klassische Psychoanalytikercouch. Eine Milchglastür auf der rechten Seite führte in ein weiteres Zimmer.
Durch eine Handbewegung wies der Arzt Gerald den Stuhl vor dem Schreibtisch zu und setzte sich anschließend auf seinen Platz. Über seinem Kopf tanzte die bunte Welt von Marc Chagall, spien Kinderdrachen und richteten sich Braunbären in die Höhe.
»Nun, dann erzählen Sie mir mal, was Sie vom Leben trennt.« Die Stimme des Arztes klang einladend weich. Er lehnte sich entspannt zurück, öffnete die Knöpfe der Strickjacke und verschränkte anschließend die Finger.
»Also«, begann Gerald, der Mühe hatte, seine Nervosität zu überspielen, »ich bin vor vier Monaten Vater geworden. Meine Lebensgefährtin und ich, wir wollten das Kind. Es ist ein Junge, er ist schön, gesund, er ist lebendig, und ich hatte gehofft, wir würden glücklich sein, uns noch mehr lieben, uns durch das Baby erweitern, irgendwie miteinander verschmelzen, wenn ich mich so ausdrücken darf.«
»Und nun stellen Sie fest, dass Ihre Lebensgefährtin so weit weg ist von Ihnen wie nie zuvor.« Dr. Chateaux lächelte, in einer extrem schnellen, schmallippigen Bewegung, ohne die Zähne freizulegen. Es irritierte Gerald, weil es ihm keine empathische Zustimmung signalisierte, sondern eine Art von »Ich-habe-sofort-alles-verstanden.«
»Gestern Abend war ich eine halbe Stunde alleine in der Wohnung. Es ist meine Wohnung, in der ich schon gelebt habe, bevor Nele zu mir gezogen ist. Aber ich sah überall nur Severin, seine Windeln, sein Spielzeug, seine Badewanne, sein Shampoo, seine Cremes, seine Kleidung. In jedem Zimmer, in jedem Winkel lag etwas von ihm, wie bei einer Invasion. Als hätte er alles, was nichts mit ihm zu tun hat, aus der Wohnung
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