Die Narbe
weil es andere Methoden ausschließen würde. Ich glaube weniger an Methoden und Ansätze als an eine produktive Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Ich habe als ganz normaler Mediziner begonnen, bis ich mich nicht länger vor der Erkenntnis verstecken konnte, dass neunzig Prozent aller somatischen oder psychischen Erkrankungen ihre Ursache darin haben, dass wir uns weigern, wir selbst zu sein oder besser: wir selbst zu werden. Krankheit ist Abweichung von uns selbst. Jede Krankheit will uns das auf ihre Art sagen, aber wir rennen damit zu Ärzten, die nicht gelernt haben, die Sprache der Krankheit zu verstehen. Sie haben nur gelernt, sie mit Medikamenten zum Schweigen zu bringen. Heilung muss aber mehr sein als das Verstummen der Symptome, nicht wahr?«
Wieder nickte Gerald pflichtschuldig.
»Haben Sie übrigens gerade bestimmte gesundheitliche Beschwerden? Nehmen Sie regelmäßig Medikamente? Trinken Sie im Übermaß Alkohol? Rauchen Sie viel?«
»Nichts von alledem. Nur schlafe ich sehr schlecht, besonders nach bestimmten Gruppendiskussionen in der Arbeit oder bei Problemen mit meiner Lebensgefährtin.«
Chateaux gab seine entspannte Sitzhaltung auf, streckte den Rücken und klopfte mit den Fingerkuppen auf den Tisch.
»Wissen Sie, ich möchte mich sehr gerne näher mit Ihnen befassen. Ich leite eine gesprächsbasierte Therapiegruppe, in der gerade ein Platz frei geworden ist. Ich würde Sie gerne in diese, ironisch gesprochen, Löwengrube werfen, um Sie besser kennenzulernen. Dann werden wir sehen, ob wir es mit einer Einzeltherapie kombinieren. Könnten Sie sich damit anfreunden?«
Gerald tat so, als überlegte er. »Doch, das kann ich mir gut vorstellen. Ich wusste nur nicht, dass es so schnell geht.«
»Normalerweise sind für eine Gruppentherapie mehr vorbereitende Einzelgespräche üblich, aber das werde ich gegenüber der Krankenkasse schon entsprechend begründen. Eine gewisse Flexibilität lernt man mit den Jahren.« (das Lächeln). »Darf ich Ihre Versichertenkarte kurz haben, Herr van Loren?« Gerald fingerte sie aus seiner Geldbörse.
»Wir treffen uns zwei Mal wöchentlich, jeweils um zwanzig Uhr. Morgen geht es los. Ich freue mich sehr auf unsere Zusammenarbeit, Herr van Loren.«
5
Gerald war eine Viertelstunde zu früh in der Ebersbergerstraße. Er wartete in seinem Wagen, beobachtete die wenigen Passanten, die um diese Uhrzeit in der reinen Anliegerstraße unterwegs waren, und überlegte, wer von ihnen in wenigen Minuten mit ihm in einem Raum sitzen würde. Ein älteres Ehepaar war erwartungsgemäß am Hauseingang vorbeigegangen, ebenso eine junge Frau mit feuerrot gefärbten Haaren, auf die er eigentlich gesetzt hatte. Nun parkten in rascher Reihenfolge ein Mercedes und ein Motorrad direkt vor Chateaux’s Haus. Der Mercedesfahrer stieg aus und ging an dem Motorradfahrer vorbei, der bereits seinen Helm abgenommen hatte. Aber sie vermieden jeglichen Blickkontakt, grüßten sich auch nicht. Sie gingen hintereinander, im Abstand von einigen Metern, durch den Vorgarten.
Ähnlich abweisend hatte sich Nele verhalten, als Gerald seinen Sohn gewickelt, ins Bett gebracht und anschließend, bis zur letzten verfügbaren Minute, in der Küche geholfen hatte. Nele hatte mit ungläubigem Stirnrunzeln reagiert, als er sagte, dass er in nächster Zeit vermutlich an zwei Abenden in der Woche aus dienstlichen Gründen außer Haus sein würde. Er hatte die Unsicherheit und die Zweifel an ihrem Gesichtsausdruck ablesen können, aber sie war zu überrascht und vielleicht auch zu stolz gewesen, um nachzuhaken. Sie hatte neben ihm im Flur gestanden, als er sich, die Hand an der Türklinke, vorbeugte, um sie zu küssen. Im allerletzten Moment hatte sie sich weggedreht, und seine Lippen verloren sich im Niemandsland zwischen Wange und Ohr.
Um fünf vor acht verließ Gerald den Wagen. Die Luft war noch angenehm warm. Und es war, im Vergleich zu seiner Wohnung am Harras, geradezu irritierend ruhig. Während er durch den Vorgarten ging, rief er sich das in Erinnerung, was er am Vortag dem Psychotherapeuten erzählt hatte. Die Beschreibung seiner vermeintlichen Probleme zielten in erster Linie darauf ab, den Zugang zu Alexander Fadens Gesprächsgruppe zu finden – nun, unmittelbar vor der ersten Therapiestunde seines Lebens, erschrak Gerald über das, was er über seine Beziehung zu Nele erzählt hatte. Es war, ohne künstliche Forcierung, geradezu aus ihm herausgeflossen. Er hatte gleichsam sich selbst mit
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