Die Narbe
gedrängt. Ich habe meine Klarinette im Wohnzimmer angeschaut, als wäre sie gar nicht von mir, als gehöre sie gar nicht mehr zu meinem Leben. Missverstehen Sie mich nicht, ich bin ja kein Musiker. Ich kann eigentlich noch überhaupt nichts. Ich lerne es ja erst …«
»Sie spielen Klarinette«, unterbrach ihn Dr. Chateaux. »Es ist nicht wichtig, wie gut, ob professionell oder nicht. Sie spielen , Sie sind kreativ, und Sie dürfen stolz darauf sein und es laut und deutlich sagen.«
Gerald nickte und schaute auf die Kinderbilder an der Wand. Er fühlte sich ertappt und gleichzeitig ermutigt. Er hatte stets nur seine Fehler wahrgenommen und das, was er noch nicht auf dem Instrument meisterte. Nun ließ ihn sein Gesprächspartner begreifen, dass nicht die Höhe des technischen Niveaus ausschlaggebend war, sondern die Freude an der Musik an sich.
»Seit Monaten habe ich die Klarinette nicht mehr angerührt. Meine Welt schläft, dachte ich gestern. Es ist fast so, als ob mein eigenes Leben aufgehört hätte.«
»Die schlafende Welt. Das gefällt mir«, sagte Chateaux und versank noch tiefer in der Rückenlehne des Bürostuhls. »Haben Sie denn nie mit Nele darüber geredet?«
Gerald zuckte mit den Achseln. »Nein. Es mag sich absurd anhören, aber es ist beinahe so, als ob sie als einzelne Person gar nicht mehr existieren würde. Sie hat sich verdoppelt. Sie sagt zum Beispiel, mit Severin auf dem Arm: ›Wir haben das heute im Supermarkt ausgewählt.‹ Oder: ›Wir möchten uns jetzt lieber etwas ausruhen.‹ Ich sehe überhaupt keine Nele mehr, die ich kenne. Ich sehe nur noch sie und das Baby und diese ewige Müdigkeit. Es ist so absurd manchmal, und es saugt unheimlich viel Kraft aus mir heraus.«
»Und Ihre körperliche Verständigung?« Wieder zeigte Chateaux dieses selbstgewisse Lächeln, das zu signalisieren schien, dass er längst erkannt hatte, was der Sprecher noch mühsam zu ergründen versuchte.
Gerald schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Seine Kehle war in diesem Moment wie zugeschnürt. Er fand nicht die Kraft zu antworten.
»Was machen Sie beruflich, Herr van Loren?«
»Ich bin Verwaltungsbeamter. Seit ein paar Jahren beschäftige ich mich vor allem mit internen Organisationsfragen und Controlling.«
»Controlling. Ja, ja, die Prozesse effizienter und kostengünstiger gestalten, sie besser organisieren. Aber das ist für Ihr Privatleben sicher nicht der Königsweg, nicht wahr? Sind Sie denn in Ihrem Beruf durchsetzungsfähiger?»
Gerald schaute aus dem Fenster, weil er das provozierende Lächeln des Arztes nicht ertragen konnte. »Das ist mein großes Problem. Ich denke oft, dass ich gute Ideen habe, aber bei den Dienstbesprechungen geht es vor allem darum, wer sich am lautesten auf die Brust trommelt und das Alphatier gibt. Es deprimiert mich, dass die Marktschreier und skrupellosen Aufschneider mit ihrer Masche durchkommen. Und denen muss ich dann zuarbeiten. Das macht mich wütend, und wenn ich dann etwas dagegen sage, geht es leicht auf die persönliche Ebene und mir wird dann mangelnde Professionalität unterstellt. Ich habe nie das Gefühl, wirklich respektiert zu werden.«
»Es ist sicher kein Zufall, dass Sie Verwaltungsbeamter geworden sind. Die starren, formalen Hierarchien legen zwar Grenzen, schützen aber umgekehrt auch vor der Unmittelbarkeit des Lebens. Ich könnte Sie mir beispielsweise nur schwer als Sozialarbeiter vorstellen.«
Ergeben nickte Gerald. Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb bei der Couch hängen. Er fühlte, dass Chateaux ihn beobachtete.
»Ja, ja. Dort schaut jeder hin. Die Couch, der große Mythos der Psychoanalyse. Sigmund Freud war ohne jeden Zweifel ein genialer Eisbrecher gegen die Verklemmungen und Verdrängungen seiner Epoche. Ein Albert Einstein der Psychologie. Aber letztlich war er selbst in seiner Zeit gefangen, die von den Naturwissenschaften dominiert war. Da war zu viel Suche nach einer direkten Linie zwischen Ursache und Wirkung, sozusagen nach den Pawlow’schen Hunden in unserer komplizierten Psyche, und wie Albert Einstein musste er am Ende einsehen, dass die wissenschaftliche Entwicklung über ihn hinweggegangen war.«
Wieder das schnelle Lächeln, das Gerald als unangenehm empfand. Als feiere Chateaux seine eigenen Formulierungen und hielte sein Gegenüber nicht für gebildet genug, in einen Dialog einzusteigen.
»Ich selbst habe keinen bestimmten methodischen Ansatz«, fuhr er fort. »Das hielte ich auch für bedenklich,
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