Die Narbe
verschlossen und zugleich herausfordernd, als wäre das Leben ein dauernder Zweikampf und er der vorprogrammierte Sieger.
Der andere Mann war vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig, mit einem fein geschnittenen, sensiblen Gesicht, gut gekleidet, mit einer auffallend eleganten Brille. Die hohe Stirn und die akkurat geschnittenen Haare verliehen ihm eine gewisse Intellektualität. Gerald erinnerte sich, dass dieser Mann der Mercedesfahrer war. Er konnte ihn sich gut als Börsenmakler oder Anwalt vorstellen.
Die Frau, überlegte Gerald, musste offenbar schon eine Viertelstunde zuvor in der Praxis gewesen sein, denn Gerald hatte den Hauseingang fest im Auge gehabt. Ob sie vorher einen Einzeltermin bei Chateaux gehabt hatte? Sie war ungefähr in demselben Alter wie der Motorradfahrer, sehr hübsch, mit gleichmäßigen Gesichtszügen, schulterlangen, glatten Haaren. Sie trug keinen Schmuck und war auch nicht geschminkt. Ihre Kleidung – ein knielanger Rock, ein helles T-Shirt und eine eng geschnittene, schwarze Jacke – war feminin und betonte ihre schlanke, sportliche Figur. Sie schaute auf den Boden, die Augenbrauen waren leicht zusammengezogen, als würde sie konzentriert nachdenken.
Während er sie betrachtete, betraten drei weitere Personen den Raum, Dr. Chateaux als Letzter. Die anderen beiden waren eine Frau und ein Mann. Die Frau, zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig, war stark übergewichtig. Sie trug eine Leinenhose und ein weites Sweatshirt mit einem bunten Muster. Sobald sie sich gesetzt hatte, wischte sie sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn; ihre Gesichtshaut glänzte vor Anstrengung. Der Mann war erheblich älter und sehr dünn, mit schütterem Haar, das akkurat gescheitelt war, in einem abgetragenen, hellbraunen Anzug. Er war weder gut aussehend noch hässlich. Das Gesicht und die ganze Erscheinung wirkten unauffällig, geradezu austauschbar.
Dr. Chateaux setzte sich auf den Stuhl direkt vor der Tür, als wolle er die Kontrolle darüber bewahren, wer den Raum verließ. Keiner der drei hatte beim Eintreten etwas gesagt. Gerald fühlte sich so unwohl wie schon lange nicht mehr. Das Schweigen hielt noch an, als alle saßen. Man hörte nur das schwere Atmen der übergewichtigen Frau. Der Therapeut lächelte aufmunternd in die Runde, aber bis auf den Motorradfahrer und Gerald hielten die Teilnehmer die Köpfe gesenkt. Lag es an ihm, überlegte Gerald, dem Neuankömmling?
»Wie Sie unschwer bemerkt haben dürften«, begann Chateaux schließlich, »haben wir ein neues Gesicht unter uns. Ich habe Gerald van Loren eingeladen, weil ich den Eindruck hatte, dass er gut zu dieser Gruppe passt. Ich habe mit ihm vereinbart, dass er einfach mal ins kalte Wasser springt. Nach einigen Gruppenstunden werde ich dann gemeinsam mit ihm erörtern, wie wir weiter vorgehen werden. Aber vielleicht erzählen Sie uns erst einmal selbst etwas über sich, Herr van Loren, wobei es, um es gleich anzufügen, zu den ganz wenigen Privilegien in dieser Gruppe gehört, auch schweigen zu dürfen.« Beim letzten Satz lächelte er ironisch die beiden Teilnehmer an, die mit ihm den Raum betreten hatten.
Gerald räusperte sich. Obwohl er mit dieser Frage gerechnet und seinen Einstieg gewissermaßen auswendig gelernt hatte, war sein Kopf plötzlich vollkommen leer. Er spürte, wie er errötete, und das ließ ihn wütend auf sich selbst werden. Wie kann es sein, dachte er, dass es dir die Sprache verschlägt wie einem Sechsjährigen, der ein Weihnachtsgedicht in der Schulaula aufsagen muss?
»Mein Name ist Gerald van Loren«, begann er zögerlich, und bevor er fortfahren konnte, unterbrach ihn der Motorradfahrer: »Das hat der Doc doch gerade schon gesagt, Mann. Denkst du, wir sind blöd? So schön ist der Name schließlich auch nicht. Oder bist du stolz auf diesen komischen Adelstitel, wenn es überhaupt einer ist?«
Gerald schaute ihn verdutzt an und suchte in der Mimik des Motorradfahrers vergeblich nach einem Anzeichen von Ironie oder einem Lächeln. Die Bemerkung war offensichtlich genauso aggressiv gemeint, wie sie geklungen hatte. Gerald blickte in die Runde, aber niemand reagierte. Schließlich setzte er neu an: »Ich habe Rat bei Dr. Chateaux gesucht, weil mein Leben in letzter Zeit ziemlich schwierig geworden ist. Das heißt, ich weiß nicht, ob es nicht eigentlich ziemlich normale Probleme sind und ich nur nicht die Mittel habe, sie zu lösen. Oder ob ich einfach nur im Moment mehr unter ihnen leide und
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