Die Narbe
Erstaunen zugehört. Wie konnte Chateaux nur alle vitalen Abwehrmechanismen – die Gerald jeden Tag bei Batzko trainierte – außer Kraft setzen?
Er hatte den Zeigefinger schon auf der Klingel, als er sah, dass die Haustür nur angelehnt war. Gerald trat ein und ging zunächst auf die Toilette, um seine Blase zu erleichtern. Es war mehr oder weniger eine Vorsichtsmaßnahme, weil er nicht wusste, ob es erwünscht war, den Therapieraum zwischendurch zu verlassen.
Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel: Die schmalen Halbmonde um seinen Mund hatten sich in den letzten Monaten tiefer eingegraben. Die vollen, weichen Lippen machten einen verkniffenen Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass sie das Erste waren, was man an seinem Gesicht wahrnahm. Die Augenbrauen waren dünn und von dunklerer Farbe als das glatte, mittelbraune Haupthaar, das er kurz trug, seitdem die in den letzten Jahren entstandenen Geheimratsecken von einem Scheitel eher betont als bedeckt wurden. Die Augen waren relativ groß, aber von einem unauffälligen, diffusen Hellblau. Er musste Nele zustimmen: Sein Gesicht bestand aus einem gerahmten Mund. Batzko beschrieb es mit anderen Worten: ein Teller Püree mit zwei Augen.
In der schmalen Diele warf er einen Blick auf die mittlere Tür. An ihr hing der Papierausdruck eines Fotos, eines Urlaubsschnappschusses vermutlich, der ein reetgedecktes Haus in den Dünen zeigte mit einem weißen Schild, das in den Vorgarten gepflockt war: »Zimmer von Privat«. Hier wohnte also die Familie, die bald in den Swimmingpool springen würde. Gerald überlegte, wie viel ein Psychotherapeut wohl verdiente. Das Einkommen alleine konnte das Haus in dieser Lage sicher nicht finanzieren, auch wenn er, wie Gerald am Vortag registriert hatte, über eine gewisse Wendigkeit in der Kommunikation mit der Krankenkasse zu verfügen schien. Vermutlich hatte er zusätzlich geerbt, Mediziner sind bekanntlich gerne Kinder und Enkel von Medizinern und heiraten zudem bevorzugt in ihren Kreisen.
Gerald betrat das Sprechzimmer, in dem sich zu seiner Überraschung niemand befand. Die Milchglastür auf der rechten Seite war nur angelehnt. Eigentlich konnten die Mitpatienten, die vor ihm das Haus betreten hatten, nur dort sein. Er lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Schließlich klopfte er vorsichtig mit dem Knöchel des Zeigefingers an die Tür. Zunächst kam keine Reaktion, dann sagte eine Männerstimme: »Besser nicht!«, was ein spontanes Lachen mehrerer Personen provozierte. Gerald holte tief Atem und betrat den Raum.
Er war etwas kleiner als das Sprechzimmer, die Wände weiß und bilderlos. In jeder Ecke stand eine große Zimmerpflanze. In der Mitte des Raumes war ein runder, weißer Tisch, um den acht schlichte, verchromte Bürostühle angeordnet waren. Zwei Männer und eine Frau schauten kurz auf und murmelten einen Willkommensgruß, der in Geralds Ohren ziemlich gleichgültig, wenn nicht gar abweisend klang. Gerald bemerkte, dass keiner der drei direkt neben einem anderen saß. Er hängte sein Jackett an den Garderobenständer neben die Motorradjacke und den Helm und bewegte sich zurück zum Sitzkreis. Niemand schaute ihn direkt an. Gerald hätte gerne gefragt, ob es eine feste Sitzordnung gab, unterließ es aber aus Angst, etwas Falsches zu sagen.
Einen Moment stand er unschlüssig im Raum. Die Tatsache, dass ihn niemand ansah, niemand ihn durch eine Geste in den Kreis einlud, verunsicherte ihn. Er musste sich überwinden, nicht fluchtartig den Raum zu verlassen, und hätte es vielleicht sogar getan, wenn ihm die Frau nicht schließlich aufmunternd zugelächelt hätte. »Hallo.« Ihre Stimme klang freundlich. Mit einer Geste forderte sie ihn auf, Platz zu nehmen. Gerald setzte sich und bemerkte erst danach, dass er sich verhalten hatte wie die anderen. Die Stühle links und rechts waren frei, sodass sich ein vollkommen symmetrisches Bild ergab. Vier Menschen hatten die maximale Distanz zueinander in vier gleiche Teile geteilt.
Da alle schwiegen, nutzte Gerald die Zeit, um die drei Teilnehmer näher zu betrachten. Die beiden Männer konnten gegensätzlicher kaum sein. Den Motorradfahrer schätzte Gerald auf Mitte zwanzig, er war klein und bullig, die Oberarme unter dem T-Shirt mit einem »Hard Rock Café New Orleans«-Aufdruck wirkten wie aufgepumpt. Er trug mehrere Ringe an den Fingern, die unruhig auf den Oberschenkeln klopften. Die glatten Haare klebten an dem rundlichen Kopf. Sein stumpfes Gesicht wirkte
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