Die Narbe
Und, Herr van Loren, seien Sie nicht irritiert. Untereinander duzen sich die Teilnehmer.«
Gerald war erleichtert, dass ihm wenigstens der Therapeut kein Du aufzwang. Er versuchte sich zu konzentrieren. »Hin und wieder spüre ich eine Ablehnung unserem Baby gegenüber. Wenn ich ehrlich sein soll, ist es manchmal so, dass ein Hassgefühl durch mich hindurchfährt wie ein Blitz. Severin erscheint mir wie ein kleiner Alien, der sich von Nele, meiner Freundin, ernährt hat, der ihre Persönlichkeit verändert hat, der sie mir regelrecht weggenommen hat. Er ist so klein, aber er hat alles um sich herum in seiner Gewalt. Alle Fäden laufen bei ihm zusammen. Gleichzeitig ertrage ich es nicht, diese Aggression gegenüber meinem eigenen Kind zu erkennen.«
Gerald war plötzlich kotzübel. Er hatte Angst, erbrechen zu müssen. Er hatte das alles nicht sagen wollen. Es war eine andere Stimme, die sich seiner bemächtigt hatte. Gleichzeitig spürte er instinktiv, dass er die Wahrheit gesprochen hatte.
»Sehr gut. Das ist sehr gut«, kommentierte Dr. Chateaux, der Geralds innere Erregung mit erkennbarem Wohlgefallen registrierte und eine Notiz in ein schmales Büchlein schrieb, das er aus der Tasche seiner Strickjacke geholt hatte.
Gerald sah sich nicht in der Lage fortzufahren. Er wischte sich nervös mit der Hand über die Stirn und hoffte, dass ein anderer Gruppenteilnehmer das Wort ergreifen würde. Aber niemand sagte etwas. Dann hörte Gerald ein merkwürdiges Geräusch von der übergewichtigen Frau neben sich. Es klang wie ein unterdrücktes Schluchzen. Sie schüttelte den Kopf, als Zeichen, dass sie keine Hilfe benötigte, holte ein Tempo aus der Tasche ihrer Bluse und hielt es sich vor die Augen. Dann verwandelte sich das Schluchzen in ein stilles, konstantes Weinen. Die Tränen flossen aus ihren Augen, aber ihr Körper blieb unbewegt. Das Weinen geschah so beiläufig wie ihr Atmen.
Gerald schaute sich um, aber niemand schenkte der Frau Beachtung.
»Gerald, ist es in Ordnung für dich, wenn ich an dieser Stelle von mir selbst spreche?«, fragte Arno und fuhr erst fort, nachdem Gerald dankbar genickt hatte. »Ich bin mir in meiner Entscheidung mittlerweile sicher.« Er zögerte einen Moment und nahm seine Brille ab, bevor er weitersprach. »Aber ich finde noch nicht die Kraft, mit meiner Frau darüber zu reden. Nicht nur mein Leben, sondern auch ihres würde sich radikal ändern. Ich quäle mich jeden Tag mit der Frage, ob das Recht, mein Leben so zu leben, wie ich es tief drinnen will, so weit gehen darf, dass das Leben meiner Frau, die ich sehr liebe und respektiere, völlig aus den Angeln gehoben wird.«
Arno putzte mit einem Tempo-Taschentuch seine Brille, ohne sie danach wieder aufzusetzen. Er hatte sehr ruhig gesprochen und beherrscht. Offenbar wussten die anderen, wovon er sprach, denn niemand hakte ein. Es war nur das leise Weinen der Frau zu hören, so konstant wie ein elektrisch betriebener Zimmerbrunnen.
»Da wir gerade bei unserem zentralen Thema angekommen sind«, sagte die junge, hübsche Frau, »möchte ich gerne mit euch über Alexander sprechen. Er war fast ein Jahr in der Gruppe. Wir können doch nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.«
»Ich muss«, unterbrach Chateaux mit einer deutlichen Schärfe in der Stimme, »daran erinnern, dass in dieser Gruppe nicht über jemanden außerhalb der Gruppe gesprochen wird. Das schließt auch frühere Mitglieder ein. Der Freitod von Alexander ist tragisch, er war unvorhersehbar und bleibt für uns damit unerklärbar. Er mag Schuldgefühle auslösen, weil man glaubt, Vorboten nicht erkannt zu haben. Aber was immer auch geschehen ist – es ist außerhalb geschehen. Es würde die Gruppe nur destabilisieren und von der eigentlichen Zielsetzung wegführen, wenn Alexander als Phantom in diesen Kreis zurückkehren würde. Wir sprechen hier nur über uns. Ich erwarte von jedem Einzelnen, dass er dazu die nötige Disziplin aufbringt.«
Unvorhersehbar? Unerklärbar?, dachte Gerald. Das hatte im Telefongespräch mit Batzko anders geklungen.
»Selbstmord? Niemals. Das weiß doch jeder von uns«, sagte die junge Frau leise, mit gesenktem Kopf.
»Franziska, ich kann das nicht hinnehmen. Alexander hatte in letzter Zeit, wie wir alle wissen, einige Sitzungen ausfallen lassen. Er hatte sich innerlich nicht mehr als Teil der Gruppe gesehen. Das mussten wir akzeptieren. Durch deine Äußerungen nimmst du dir selbst und der Gruppe die Konzentration auf die
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