Die Narbe
deshalb denke, es wären schwere Probleme, obwohl sie vielleicht jeder hat und sie einfach zum normalen Leben gehören.«
»Hat irgendjemand verstanden, was mit dieser Schwafelei gemeint sein soll?« Erneut fuhr ihm derselbe Teilnehmer dazwischen und schaute von einem zum anderen. »Mann, stell doch einfach die Windmaschine ab und sag, was Sache ist.«
»Werden Sie gerne etwas konkreter, wie gestern in meiner Praxis«, forderte ihn Chateaux auf. »Es ist sehr wichtig, von unseren Erlebnissen und Erfahrungen unmittelbar zu berichten, so, wie wir sie erleben und welche Gefühle sie auslösen. Sie haben sich aber in allgemeine Bewertungskategorien geflüchtet, indem Sie, Herr van Loren, in den wenigen Sätzen zweimal den Begriff ›normal‹ verwendeten, ohne auszusprechen, worum es konkret geht. Die Bewertungen überlassen wir den Schulaufsätzen; in diesem Kreis versuchen wir zu verstehen.«
Gerald nickte. Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr. »Also, da geht es einmal um meinen Job in der Verwaltung. Wir arbeiten in Teams, und da mache ich oft die Erfahrung, dass nicht diejenigen die Leitungsjobs bekommen, die am besten arbeiten, sondern die, die sich in den Besprechungen aufblasen und die Ellbogen ausfahren. Ich kann zum Beispiel schwer damit umgehen, wenn ein Kollege den ganzen Tag lang über Probleme in unserem Aufgabenbereich schimpft, dem Vorgesetzten gegenüber aber den Eindruck vermittelt, er hätte alles super im Griff. Möglichst viel Staub aufwirbeln und die Beförderung schaffen, bevor der Blick auf die realen Verhältnisse wieder klar wird, das ist die allgemeine Devise. Der andere Punkt ist, dass meine Lebensgefährtin vor vier Monaten ein Kind bekommen hat, ein Wunschkind. Ich habe gedacht, okay, der Alltag wird anstrengender, aber das Leben wird schöner, intensiver werden, auch in unserer Beziehung zueinander. Aber in Wirklichkeit streiten wir sehr viel mehr, wir reden über nichts anderes als das Kind, und körperlich, wie soll ich es ausdrücken …«
»Sie lässt dich nicht mehr zwischen die Beine«, unterbrach ihn der Motorradfahrer und schob grinsend den ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand durch den Ring, den er mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand bildete.
Gerald verstummte. Es war weniger das ungefragte Duzen, das ihn überraschte, als die provozierende, geradezu genießerische Obszönität der Bemerkung. In seinen aufgepumpten Muskeln, dem breitbeinigen Sitzen, den Kopf vorgestreckt, in all seiner sprungbereiten Aggressivität erschien ihm der Motorradfahrer wie die vulgärere Ausgabe seines Kollegen Batzko. Gerald schaute in die Runde, als erwarte er Unterstützung.
»Wir sind nicht alle so«, sagte der Mann, der bereits in dem Zimmer gesessen hatte, als Gerald angekommen war. Er lächelte Gerald aufmunternd zu. Die Stimme ließ keine Zweifel, dass er vorhin bei Geralds Anklopfen die witzige Bemerkung gemacht hatte.
»Aber fast, Arno. Bei dir gehen da unten doch bald die Lichter aus. Und wenn ich …« Die junge Frau unterbrach ihn: »Lutz, kannst du nicht wenigstens zehn Minuten warten, bevor du deine Gorilla-Nummer abziehst?« Zu Geralds Überraschung verstummte der Zurechtgewiesene tatsächlich, als fürchte er allein die Autorität dieser Frau. Er zuckte nur kurz mit den Achseln, als sei er sich wenigstens ein Zeichen der überlegenen Gleichgültigkeit schuldig.
Gerald schaute zu Chateaux, der die Fingerkuppen aneinanderrieb, als genösse er die Szene. Seine Kleidung bestand wieder aus einem bunten Stilmix (Fliege über weißem Hemd, Strickjacke, ausgewaschene Jeans), wobei den einzelnen Kleidungsstücken anzusehen war, dass sie nicht gerade von einem Wühltisch gegriffen worden waren.
»Nun«, begann er schließlich, nachdem ein dumpfes Schweigen in die Runde zurückgekehrt war, »ich habe Gerald in einem Vorgespräch vermitteln wollen, dass ich zunächst seine Sichtweise verändern möchte. Die meisten Menschen betrachten ihre Probleme als Bedrohung, als eine Art Krebsgeschwür, das sie herausschneiden wollen. Ich hingegen möchte uns alle dazu bewegen, Probleme zunächst einmal zu akzeptieren. Und dann zu verstehen. Jedes Problem trägt sozusagen eine Art DNS unseres Ich in sich. Man muss sie nur entschlüsseln, und dazu braucht es Geduld und Verständnis. Wenn sie einmal erkannt sind, verlieren sie sehr schnell ihren Schrecken. Probleme sind kein feindseliges Kampfgeschwader, sie gleichen vielmehr einem Steg, der uns beim Aufstieg zu uns selbst hilfreich ist.
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