Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
Vom Netzwerk:
eigentlichen Aufgaben.«
    Chateaux’s Stimme hatte an Lautstärke und Schärfe noch zugelegt. Es war, als hätte er sein zweites Gesicht gezeigt. Er erinnerte Gerald in diesem Moment eher an einen Sektenführer als an einen verständnisvollen Therapeuten. Aber der Auftritt verfehlte seine Wirkung nicht. Franziska errötete, es war ihr anzusehen, dass sie Chateaux’s Bemerkung ärgerte, aber sie blieb stumm.
    Lutz hingegen schien mit dieser Linie einverstanden. Mehr noch, sie wirkte wie eine Befreiung auf ihn, und er berichtete ausführlich von einer Frau, die er kennengelernt hatte. Mit demonstrativen Seitenblicken auf Arno berichtete er triumphierend, wie leicht er sie ins Bett gekriegt hatte. Es sei ein großer Vorteil, dass seine feste Freundin nur an den Wochenenden in der Stadt wäre. So könne er fünf Tage unbeobachtet auf die Jagd gehen. Seine Freundin hätte noch nie etwas gemerkt. Bei ihm gälte eben die Regel: mehr Frauen = mehr Lust auf Sex, es gäbe nichts Besseres, als sich mit mehreren Frauen durch die ganze Woche zu vögeln. Während seines endlosen Monologs spannte er fortwährend seine Oberschenkelmuskeln an.
    Niemand äußerte sich dazu. Chateaux machte sich Notizen. Gerald gewann den Eindruck, dass die Gruppe Lutz’ aufdringliche Selbstdarstellung so passiv hinnahm wie das stille Weinen der Frau.
    Franziska wirkte seit der Zurechtweisung durch Chateaux abwesend. Auch Arno schien mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Er hörte nicht auf, seine Brille zu putzen. Offenbar war es seine persönliche Methode, Lutz’ provozierenden Seitenblicken auszuweichen. Und der dritte Mann, der wie ein Verwaltungsangestellter mit einem Magenleiden aussah, zeigte die ganze Zeit über keinerlei Regung. Er scharrte nur gelegentlich mit den Schuhen über den Boden oder veränderte seine Sitzhaltung, wobei er sich stets leise räusperte. Er wurde auch von niemandem angesprochen, bis Chateaux um Viertel nach neun die Gruppensitzung beendete. »Ich danke Ihnen. Wir sehen uns am kommenden Montag wieder.«
    Chateaux stand auf und verließ als Erster den Raum. Die anderen erhoben sich nach und nach, am Schluss die Frau, die noch immer weinte. Lutz nahm seine Motorradjacke und den Helm vom Garderobenständer, dann verließ er schweigend und langsam den Raum. Die anderen folgten ihm wie eine Schar Messdiener. Als Gerald am Büro von Dr. Chateaux vorbeikam, sah er ihn am Schreibtisch sitzen, den Blick auf den Bildschirm seines Computers gerichtet. Seine Hände flogen förmlich über die Tastatur. Er schien die Menschen, über die er offensichtlich gerade schrieb, gar nicht mehr wahrzunehmen.
    Gerald erwartete, dass nun jeder seines Weges gehen würde. Tatsächlich bestieg Lutz, nachdem er ein lässiges »Ciao« in die Runde geworfen hatte, sein Motorrad und brauste mit quietschenden Reifen davon. Die Weinende ging grußlos, mit hängendem Kopf, in Richtung Ismaningerstraße. Franziska aber wandte sich Gerald zu: »Du, Arno und ich gehen nach der Sitzung manchmal auf ein Bier in eine Kneipe hier in der Nähe. Hast du vielleicht Lust mitzukommen oder bist du zu geschockt von unserer Freakshow?«
    Sie stand ganz nah vor ihm und lächelte ihn an. Sie war so hübsch, so anziehend, dass Gerald in diesem Augenblick irgendwie merkwürdig zumute wurde.
    »Ich komme gerne mit«, sagte er und versuchte entspannt zu klingen. »Bist du zu Fuß unterwegs? Soll ich dich im Wagen mitnehmen?«
    »Warum nicht?« Sie ging hinüber zu Arno, der neben seinem Mercedes stand. Sie wechselten einige Worte, die Gerald nicht verstehen konnte. Dann kam sie zurück, und Gerald deutete auf seinen Wagen auf der anderen Straßenseite.
    Während der Fahrt betrachtete er sie verstohlen von der Seite. Aus welchem Grund machte sie eine Gruppentherapie? Aus ihren Äußerungen war zu schließen, dass sie schon eine gewisse Zeit dabei war. Aber über sich selbst hatte sie nichts gesagt. Gerald hatte nicht die leiseste Vermutung.
    »Bist du sehr geschockt? Ist es deine erste Therapieerfahrung?«, fragte sie unvermittelt.
    Gerald lächelte. »Meine erste, ja. Ich weiß nicht recht, ob ich geschockt bin. Ich war jedenfalls auf die, sagen wir, zum Teil extremeren Ausdrucksformen nicht eingestellt.«
    Sie fuhr mit einer raschen Bewegung durch ihre Haare. »Lass dich nicht verbeißen. Lutz ist für sich schon der Mein-Schwanz-ist-der-Größte-Typ, und wenn ein Neuer kommt, muss er es gleich in Großbuchstaben an die Wand schreiben. Barbara, die mit der schweren

Weitere Kostenlose Bücher