Die Narbe
gestorben ist, eigentlich auch mit euch hierhingegangen?«
Arno spielte mit seinem Autoschlüssel und wich Geralds Blick aus. »Weißt du, es gibt eine weitere Regel für unsere Gruppe. Wir dürfen uns zwar privat miteinander treffen, aber alles, was die Gruppe betrifft, soll nur innerhalb des Therapiezimmers zur Sprache kommen. Chateaux will nicht, dass sich Cliquen bilden. Alle sollen stets auf dem gleichen Stand sein, alles soll transparent sein.«
»Ach komm, Arno«, warf Franziska ein. »Ich respektiere Chateaux, aber wir sind doch keine kleinen Kinder mehr. Ich fand sein Verhalten heute unmöglich, geradezu feindselig. Eine gemeinsame Trauerarbeit hätte den Zusammenhalt zwischen uns stärken können. Es sieht doch ein Blinder, dass die Gruppe immer divergenter wird. Alexander hat der Gruppe durch seine ruhige Art eine gewisse Mitte gegeben. Außerdem hat er, wenn man so will, den Ausstieg geschafft. Er hat eine Konsequenz im Umgang mit seiner Erkrankung bewiesen, von der andere noch weit entfernt sind. Chateaux sollte stolz auf ihn sein, stattdessen macht er ihn zu einer persona non grata. Was soll das? Und dann dieses Gerede vom angeblichen Selbstmord. Wie kommt er darauf? Ich kann mir nur vorstellen, dass er fürchtet, ein Gespräch über Alexander könnte den Prozess verlängern, in dem die Gruppe eine neue Balance suchen muss.«
Arno zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht hast du Recht. Wahrscheinlich bin ich im Moment zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um das zu sehen.«
»Mehr noch«, fuhr Franziska fort. »Es ist vielleicht kein Zufall, dass heute Abend ein Neuer bei uns war. Als wollte Chateaux Alexanders Platz sobald wie möglich besetzen.«
Sie schaute Gerald direkt an. Ihr Blick wurde sehr ernst. »Alexander und ich waren sehr eng befreundet. Wir haben privat ziemlich viel zusammen unternommen, musst du wissen. Wir hatten praktisch keine Geheimnisse voreinander.«
»Und deshalb glaubst du nicht daran, dass es Selbstmord war?«
Arno holte tief Luft. Er wirkte verärgert, sah aber augenscheinlich keine Möglichkeit, Franziska zu stoppen. Sie beachtete ihn in diesem Moment einfach nicht.
»Es ging ihm so gut nach der Operation. Richtig gut.«
»Operation? Was hatte er? War er krank?«
Sie schüttelte langsam den Kopf und musste mehrmals schlucken, bevor sie in der Lage war zu sprechen. »Alexander litt an BIID. Das steht für ›Body Integrity Identity Disorder‹. Das sind Menschen, die …«
»Franziska, ich finde es offen gestanden keine gute Idee, Gerald gleich am ersten Abend damit zu behelligen«, unterbrach Arno sie. Er legte den Arm um ihre Schulter. »Du bist müde und verletzt. Gib uns allen mehr Zeit, den Schock zu verarbeiten. Komm, ich setz dich zu Hause ab.«
Franziska biss sich auf die Lippen und nickte. Sie hob, ohne Gerald anzusehen, die Hand flüchtig zum Gruß.
»Wir sehen uns Montagabend. Ich wünsche dir eine gute Zeit«, sagte Arno in distanziertem Tonfall, der so gar nicht zum Gespräch in der Kneipe passen wollte. Dann ging er, ohne eine Antwort abzuwarten, mit Franziska zu seinem Auto.
6
Am nächsten Morgen versuchte Gerald, sich an den Namen der Krankheit zu erinnern. Aber er wusste nur noch, dass sie mit »Body« anfing, aus vier Worten bestand und das letzte geklungen hatte wie »disaster«. Er hatte versäumt, in seinem Auto zu einem Zettel zu greifen, sobald die beiden anderen fortgefahren waren. Während der Fahrt hatte er immerzu an Franziska denken müssen. Vor seinem geistigen Auge hatte er den Abend Revue passieren lassen, um jede ihrer Gesten und Worte einzufangen. Er hatte in seiner Hochstimmung sogar leise gesummt, und das war ihm seit vielen Monaten nicht mehr passiert.
Nun saß er in seinem Büro, vor sich auf dem Schreibtisch eine Alibi-Akte, und googelte »body« in Verbindung mit »desaster«. Aber die Trefferzahl war unüberschaubar. Dann fügte er den Begriff »Operation« hinzu und stieß, nachdem er zahlreiche Seiten durchgesehen hatte, auf die Abkürzung »BIID«. Das war der Begriff! Gerald fand dazu zwar einige einschlägige Artikel, beschloss aber, sich direkt an eine kompetente Person zu wenden.
Er wählte die Nummer der Gerichtsmedizin, und diesmal hob Dr. Niels Wembler sofort ab.
»Na, Herr van Loren, haben wir beide wieder eine Leiche im Keller?«
Da war erneut diese aufreizende Munterkeit, die Gerald an den Kellner am Vorabend erinnerte. Er konnte sie nur schwer ertragen, besonders am frühen Vormittag.
»Es geht noch einmal
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