Die Narbe
Essstörung, will oft nur vor sich hin weinen. Hans – das ist der, der neben Arno gesessen hat – ist so unglaublich schüchtern und unsicher, dass er mindestens drei Wochen schweigt, wenn ein Neuer zu uns stößt.«
»Ich war von mir selbst überrascht. Ich kann es gar nicht genau beschreiben. Es war so, als hätte etwas durch mich hindurchgesprochen, wie in einer Art Trance. Ich habe gar nicht gewusst, was ich sagte, bis es ausgesprochen war, und dann wurde mir klar, dass alles wahr ist.«
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war eine rein freundschaftliche Geste, aber sie durchfuhr Gerald wie ein Blitz. »Das ist ein gutes Zeichen. Dann wird dir die Therapie helfen.« Sie schaute ihn direkt an, und in ihrer Stimme schwang viel Mitgefühl. Es schien nur verständlich, dachte er, dass sie nach Alexanders Tod nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen wollte. Aber warum hatte ihr eigentlich niemand aus der Gruppe beigestanden, als Chateaux ihr das Wort entzogen hatte? Warum hatten sie sich widerstandslos seinem Gesprächsdiktat unterworfen?
Die Kneipe, von der Franziska gesprochen hatte, erwies sich als eine gepflegte, helle Gastwirtschaft in der Ismaninger Straße, mit einem dezidiert bürgerlichen Publikum. Batzko kannte sie natürlich. Eine Kneipe für FDPler und solche, die sich für Besserverdiener ausgeben, hatte er einmal gespottet. Was ihn freilich nicht daran hinderte, auch dort gelegentlich auf die Pirsch zu gehen.
Arno saß bereits an einem ruhigen Tisch in der Ecke und winkte die beiden zu sich. Kurz darauf erschien der Kellner, ein jüngerer Mann mit Ohrring, weißem Hemd mit gestärktem Kragen und dunkler Hose.
»Womit darf ich denn aufschlagen? Mit drei leckeren Bierchen? Weiß wie das Licht und die Wahrheit?« Arno und Gerald nickten zustimmend, Franziska bestellte eine Weißweinschorle.
»Soll ich die Speisekarten mal dalassen, falls ihr Hunger habt? Ihr sollt natürlich nicht sie essen, sondern das, was drinsteht, schwarz auf weiß.«
Als der Kellner außer Hörweite war, meinte Arnold trocken: »Es gibt einen erschreckend hohen Prozentsatz an verhinderten Kabarettisten und arbeitslosen Akademikern mit geistigem Überdruck in dieser Berufsgruppe.«
Er wirkte nun entspannter als vorhin und spielte auch nicht länger mit seiner Brille. Er erzählte von seinem Beruf als Computer-Experte; vor Monaten hatte er ein Patent für ein Datenschutzverfahren im Internet bekommen und nun endlich einen Geldgeber gefunden, um sich selbständig zu machen. »Die Banken kann man vergessen«, meinte Arno verbittert. »Ich habe mehrere Auszeichnungen für mein Patent bekommen und Preise bei Messen für Unternehmensgründer gewonnen, aber bevor die mit einem Gründungskredit rausrücken, stecken die lieber ihren dicken Zeh ins Wasser einer Badewanne und sagen: »Oh, oh, welche Gefahren, welche Untiefen, welch hohe See, da müssen wir uns leider zurückhalten.« Inzwischen habe ich aber jemanden gefunden, der viel Geld an der Börse gemacht hat und ganz gezielt Firmengründern mit guten Ideen hilft.«
Von Franziska erfuhr er, dass sie sich nach einer Ausbildung als Einzelhandelskauffrau und mehreren Jahren Berufserfahrung für ein Studium entschieden hatte und nun im letzten Semester Allgemeine Erziehungswissenschaften studierte. Sie wollte Grundschullehrerin werden. In einem Jahr würde ihr Referendariat beginnen. Zwischen ihr und Arno bestand erkennbar eine große Vertrautheit. Sie lachten viel, berührten sich gelegentlich, aber diese Berührungen waren freundschaftlicher Natur. Zugleich spürte Gerald eine gewisse Eifersucht.
Als die beiden mehr über Geralds Berufsalltag wissen wollten, berichtete er, dass sein Team derzeit die Arbeitsabläufe bei der Kriminalpolizei durchleuchtete. Wenn er schon herzlich wenig von Arbeitsorganisation und Controlling verstand, so konnte er es immerhin mit dem Hintergrundwissen seines Jobs kompensieren. Er beantwortete alle Fragen nur sehr knapp, in der Hoffnung, dass das Gespräch sich wieder der Therapiegruppe zuwenden würde. Aber Arno und Franziska sprachen über alles Mögliche, nur nicht über Dr. Dirk Chateaux oder Alexander Faden. Als der Kellner wiederkam, die leeren Gläser einsammelte und erneut einen witzig gemeinten Spruch ablud, drängte Arno zum Aufbruch – der kommende Tag sei voller wichtiger Termine.
Kurze Zeit später standen sie auf dem Bürgersteig, und Gerald wagte einen letzten Vorstoß: »Ist dieser junge Mann, der so plötzlich
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