Die Narbe
um den jungen Mann von Anfang der Woche mit dieser exzentrischen Amputation«, sagte er betont sachlich. »Sie erinnern sich sicher.«
»Ja«, sagte Dr. Wembler, und es klang nicht so, als wäre er begeistert, an den Fall erinnert zu werden.
»Ich habe inzwischen ein wenig mehr über ihn erfahren. Kann es sich dabei um BIID, also ›Body Integrity Identity Disorder‹ handeln?«
Zunächst kam gar keine Reaktion, sodass Gerald schon an eine technische Störung dachte. Schließlich hörte er ein unterdrücktes »Shit, dass ich daran nicht gedacht habe. Verzeihung, es hätte mir auffallen müssen, die Narbe ist ja wie ein Ausrufezeichen. Dieses Krankheitsbild hat zwar nichts mit der Ursache seines Todes zu tun, aber ich hätte es natürlich erkennen müssen. Ich hoffe, ich habe dadurch Ihre Untersuchungen nicht erschwert, Herr van Loren.«
Das Schuldbewusstsein des Mediziners spielte Gerald in die Karten. »Das kann ich momentan nicht beurteilen. Ich dachte nur, bevor ich durchs Internet surfe und mich durch einen Berg von Artikeln quäle …«
»Verstehe. Sie haben etwas gut bei mir. Ich muss in diesen Tagen sowieso ins Präsidium. Soll ich am späten Vormittag auf einen Sprung bei Ihnen vorbeikommen?«
Etwas später tippte Gerald das Aktenzeichen für den Fall Alexander Faden in den Computer ein, und siehe da, die Kollegen von der Streife hatten mittlerweile ihre Pflicht erfüllt. Tendenziell lustlos, wie befürchtet. Gerald las die spärlichen Angaben und stieß auf den Satz: »Eingangstür zur Wohnung nur angelehnt.«
Und das hat euch, liebe Kollegen, nicht zu denken gegeben?, dachte Gerald. Ein Selbstmörder, der die Wohnungstür offen lässt? Es kam immer wieder vor, dass ein vermeintlich Lebensmüder Hinweise gab und gezielt Spuren legte, um rechtzeitig gefunden zu werden. Aber unser Mann hat sich nicht die Pulsadern aufgeschnitten und in die Badewanne gelegt oder ein Röhrchen Schlaftabletten geschluckt und insgeheim gehofft, dass ein Nachbar oder Freund vorbeikommt und den Notarzt alarmiert. Alexander Faden ist aus dem vierten Stock gestürzt, und selbst, wenn er in seinem Innersten auf jemand gehofft hätte, der ihn von seiner Tat abhielte, ergab die nicht verschlossene Tür einfach keinen Sinn. Wollte er, post mortem, der Polizei die Arbeit erleichtern, indem sie die Tür nicht aufbrechen mussten? Es gab zwar Menschen, die vor ihrem Suizid die Wohnung putzten, den Müllsack hinaustrugen, ihre Papiere, Ausweise, den Mietvertrag und die Autoschlüssel säuberlich geordnet neben den Abschiedsbrief legten, aber das alles traf auf Alexander Faden nicht zu. Dies war ein weiteres Indiz, das Geralds Zweifel nährte.
Eine Stunde später klopfte ein kleiner, rundlicher Mann an die offen stehende Tür. Er war jung, vielleicht Anfang dreißig, hatte dichte, mittelblonde Haare, die gelockt waren und dem vollen Gesicht mit der glatten Haut etwas Bübisches verliehen. Er trug eine helle Hose, ein blaues Hemd und eine passende Krawatte – alles so aufeinander abgestimmt, dass es einen leichten Stich ins Feminine hatte.
»Dr. Wembler?«
Statt zu antworten, hob der Mann einfach die Augenbrauen und lächelte verschmitzt.
»Danke für Ihren Besuch. Bitte setzen Sie sich doch.«
Der Gerichtsmediziner schaute auf den Besuchertisch in der Ecke des Zimmers. »Muss es dort sein? Da fühle ich mich ja wie bei einem Verhör, mit Tonbandgerät und einem zweiten Kollegen, der im Zimmer auf und ab geht und droht, mich zu verhaften, wenn ich mich nicht kooperativ zeige.«
»Sie haben zu viele Krimis gesehen.«
Der Arzt hob beide Hände vor die Brust. »Gott bewahre. Ich stehe keinen Kriminalfilm durch. Ich kann stundenlang zuschauen, wie sich Würmer durch einen Leichnam fressen oder Insekten ihre Larven legen. Das ist wie Heimkino für mich, aber wenn in einem Film ein Kind seinem Mörder begegnet oder eine Frau ihrem Vergewaltiger, ist mein Finger in Lichtgeschwindigkeit an der Fernbedienung. Miss Marple ist das Härteste, was ich mir zumuten kann.«
Gerald wies auf Batzkos Schreibtisch. »Mein Kollege hat heute Urlaub. Wenn Sie möchten …«
Dr. Wembler nahm das Angebot an. Nur war er so viel kleiner als Batzko, dass er kaum über die Schreibtischplatte ragte; als wäre er plötzlich zu einem Schuljungen geschrumpft. Es schien ihn jedoch nicht zu stören. Er legte die Handflächen gegeneinander, blies die Luft durch die Backen und begann. »BIID, also Body Integrity Identity Disorder, ist ein ziemlich junges und sehr
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