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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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kontrovers diskutiertes Phänomen. Die Betroffenen sind nach herkömmlichen Maßstäben physisch vollkommen gesund, aber sie sehnen sich danach, einen Körperteil wie einen Unterschenkel oder einen Arm zu verlieren. Sie empfinden sich paradoxerweise erst durch den Verlust einer Extremität als komplett. Es gibt auch Patienten, die eine Querschnittslähmung wünschen. Der Drang nach dem physischen Verlust kann so stark werden, dass die Betroffenen sich mit der Axt einen Arm abhacken, ein Bein auf ein Bahngleis legen oder das betreffende Körperteil so lange von der Blutzufuhr abtrennen, bis es von einem Chirurgen entfernt werden muss. Das lässt den massiven Leidensdruck ahnen, unter dem diese Menschen stehen. Viele, die nicht zu dieser extremen ›Selbsthilfe‹ greifen, haben tiefe Depressionen, werden arbeitsunfähig, isolieren sich von ihrer Umwelt, der sie ihren Wunsch aus Scham nicht mitteilen wollen.«
    »Kennt man die Ursache der Krankheit?«
    »Nicht wirklich. Sehen Sie, ich bin Naturwissenschaftler durch und durch, ich habe gerne zu jeder Krankheit eine eindeutige Erklärung. Von A nach B, verstehen Sie, und ich als Mediziner suche die Verbindung, die manchmal unmittelbar ist und manchmal gewunden und kompliziert, aber immerhin vorhanden in dem physiologischen Weltreich, das jeder Mensch darstellt. Es gibt auch für BIID einen entsprechenden neurologischen Ansatz. Demnach liegt eine Schädigung im so genannten somasensorischen Kortex vor, in dem unser Gehirn das Körperbewusstsein abbildet. Stellen Sie es sich so vor, dass in diesem Teil des Gehirns eine Fotografie unseres Körpers liegt, und auf dieser Fotografie fehlt ein Bein. Und diese Fotografie bestimmt tragischerweise das Selbstbild, nicht der reale Körper. Das Bein wird für sie zu einem störenden Fremdkörper, sie fühlen sich, ähnlich wie Transsexuelle, in einem Körper gefangen, den sie nicht als den ihren wahrnehmen. Das Ich führt Krieg gegen die eigene Physis.«
    »Wenn ich Sie richtig verstehe, so sind solche Patienten nach einer Amputation zunächst einmal am Ziel ihrer persönlichen Wünsche. Kann das ein Motiv sein, die Operationsnarbe ästhetisch gestalten zu lassen, gleichsam wie zur Bestätigung?«
    »Touché.« Der Arzt ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. Gerald, der seinen Kollegen Batzko, den Einmeterneunzig-Schrank, vor dem geistigen Auge hatte, musste ein Lächeln unterdrücken, als er den promovierten Dreikäsehoch im Sessel geradezu versinken sah.
    »Bei rund einem Drittel der Patienten hat der Stumpf eine fetischistische, bisweilen auch sexuelle Komponente. Sie lieben ihren Stumpf, sie finden ihn ästhetisch und hocherotisch. Ich weiß nicht, warum mir das bei der Obduktion nicht aufgefallen ist. Vielleicht hat die eindeutige Todesursache durch die Sturzverletzungen meine Wachsamkeit eingeschläfert. Wie auch immer – deshalb bin ich ja auch persönlich zu Ihnen gekommen.« Wembler zwinkerte mit einem Auge.
    »Gibt es eigentlich geschlechtsspezifische Unterschiede bei BIID-Patienten?«
    »Ich denke nicht. Keinesfalls sind sie markant. Bemerkenswert ist jedoch, dass eine Mehrzahl der Patienten eine überdurchschnittliche Schulbildung besitzt und ihr Einkommen ebenfalls überdurchschnittlich ist. Der klassische BIID-Betroffene ist gewissermaßen Ihr Nachbar im Reihenhaus, der unauffällig lebt, kein Trinker ist und keine Drogen konsumiert. Andere Studien haben belegt, dass der Anteil an Homosexuellen weit höher ist als im Durchschnitt, aber diese Tatsache kann nach dem aktuellen Wissensstand nur festgestellt und nicht direkt in Bezug zur Krankheit gesetzt werden.«
    »Sie sprachen davon, dass sich die Medizin erst in letzter Zeit intensiver mit diesem Phänomen befasst. Heißt das, dass diese Erkrankung vorher nicht in Erscheinung getreten ist? Oder wurde sie lediglich nicht wissenschaftlich wahrgenommen?«
    »Sie scheinen ja ein vertieftes Interesse an diesem Fall zu haben«, kommentierte Dr. Wembler. »Tatsächlich gibt es in der Medizingeschichte Berichte von Ärzten, die auf den dringenden Wunsch von Patienten Amputationen vorgenommen haben und die berichten, dass sich diese anschließend wie neugeboren fühlten. Ein Fall aus dem achtzehnten Jahrhundert ist sehr gut dokumentiert, das herzerweichende Dankschreiben des Patienten eingeschlossen. Der Mediziner hat es sicher zu seiner eigenen Legitimation aufbewahrt. Es steht zu vermuten, dass es dieses Krankheitsbild immer schon gab, aber erst in den letzten Jahrzehnten

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