Die Narbe
seine Stimme gefunden hat, wenn ich mich so ausdrücken darf. Der Körper ist längst eine enttabuisierte Zone, wir lassen uns Fett absaugen, die Brüste vergrößern, unser Gesicht und die Geschlechtsorgane piercen oder mit Tattoos bemalen – unser Körper als Leinwand unserer Sehnsüchte, Träume und Neurosen. Der Mediziner kreiert einen Körper wie ein Bildhauer eine Skulptur. Die ästhetische Chirurgie lässt kaum noch Wünsche offen, und diese neue Freiheit, in Anführungszeichen, führt dazu, dass viele Menschen über ihre geheimsten Phantasien sprechen und sich darüber im Internet austauschen. Es ist heutzutage viel leichter geworden, sich zu outen. Man kann mit Gleichgesinnten in Foren diskutieren, und man kann, wenn man will, im Internet anonym bleiben.«
»Ist es wirklich so, dass Menschen mit BIID nur durch eine Amputation erlöst werden – auch wenn einem dieser Begriff kaum über die Lippen gehen will?«
Der Gerichtsmediziner antwortete nicht sofort. Er nahm einen Kugelschreiber von Batzkos Schreibunterlage und drehte ihn in seinen Händen. Er wirkte nachdenklich, das Joviale war schlagartig verschwunden.
»Tatsächlich gibt es keine erfolgversprechende alternative Behandlung. Weder medikamentös noch psychotherapeutisch. Es scheint aktuell so, dass BIID in sich selbst besteht, sie ist nicht Ausdruck einer anderen, tieferen psychosozialen Störung, die behandelbar wäre. Die Psychotherapie und die Schulmedizin müssen die Waffen strecken, so sieht es im Moment leider aus. Die Krankheit ist eine Provokation, weil sie uns keinen Code zu ihrer Behandlung mitgibt.«
»Bedeutet das, dass ein BIID-Patient eine Amputation jederzeit und an jedem Ort vornehmen lassen kann?«
»Nein. Ein schottischer Psychiater und Chirurg namens Robert Smith hat im Jahre 2000 zwei organisch vollkommen gesunden Männern, die an BIID litten, ein Bein amputiert. Dieses Vorgehen hat in der Fachwelt für Empörung gesorgt, denn es stellt ja die traditionelle medizinische Denkweise auf den Kopf, indem nicht ein kranker Teil des Körpers behandelt, sondern ein gesunder entfernt wird. Aber Robert Smith hat die Fakten für sich sprechen lassen: Zwei seit Jahrzehnten unter Depressionen und Selbstmordabsichten leidende Menschen empfinden ihr Leben nach der Operation als glücklich und erfüllt. Als Arzt habe er also seine Funktion erfüllt, so Smith, indem er die einzig wirksame Behandlung für diese Krankheitsform durchgeführt habe. Aber dieser Kollege befindet sich immer noch in einer heftig attackierten Außenseiterposition. Die Gegner begründen ihre strikt ablehnende Haltung zunächst einmal auf der formalen Ebene damit, dass BIID noch nicht in die internationale Klassifikation der Krankheiten, den so genannten ICD-Katalog, Eingang gefunden hat. BIID ist auch nicht im Handbuch psychischer Störungen, im so genannten DSM, gelistet. Es ist eine Krankheit in einem wissenschaftlichen Niemandsland, gleichsam ohne psychiatrische oder neurologische Daseinsberechtigung. Deshalb beträte jeder Chirurg ein juristisches Minenfeld, wenn er eine solche Operation vornehmen würde, denn eine Amputation wäre ohne eine eindeutige medizinische Indikation strafrechtlich als Körperverletzung zu betrachten und kann in Deutschland mit einer Gefängnisstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden. BIID müsste also zunächst wissenschaftlich in den Rang einer ernsthaften Erkrankung befördert werden, wenn Sie den Ausdruck verzeihen, um einen Mediziner, der eine derartige Operation durchführen will, rechtlich und auch ethisch zu schützen.«
»Wie verhalten sich die Krankenkassen? Übernehmen sie die Behandlungskosten?«
»Jein. Sie übernehmen die psychotherapeutische – und damit bis dato erfolglose – Behandlung der psychischen Folgeerscheinungen wie Depressionen und Suizidgefahr, aber nicht eine Amputation. Pflaster für die Symptome, nichts gegen die Ursache. Womit wir wieder beim Irrsinn unseres Gesundheitssystems wären. Aber das bitte nur als Randbemerkung.«
»Kann ich also davon ausgehen, dass Alexander Faden nicht in Deutschland operiert wurde?«
»Sie können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Alexander Faden nicht in Deutschland operiert wurde. Vermutlich hat er auf eigene Kosten einen Arzt im europäischen Ausland, vielleicht sogar in Asien kontaktiert.«
Gerald überlegte, welche Position Dr. Chateaux in dieser Frage wohl bezogen hatte. Hatte er Alexander von einer Operation abgeraten, im
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