Die Narbe
Vertrauen auf seine psychotherapeutische Behandlung, oder hatte er seinem jungen Patienten vielleicht sogar geholfen, einen Chirurgen zu finden? Gerald entschloss sich, diese Fragen für sich zu behalten. Sie spielten für den Gerichtsmediziner schließlich keine Rolle und standen auch nicht im Widerspruch zu seinen Aussagen.
»Wenn ich alles richtig verstanden habe«, sagte er, »dann hat Alexander Faden, also vorausgesetzt, er litt an BIID, jene Behandlung gewählt, die geeignet ist, das Leiden zu beenden. Richtig?«
Dr. Wembler nickte.
»Mit anderen Worten: Als Motiv für einen Suizid scheidet die Erkrankung aus.«
»Ja.« Niels Wember sagte es so laut, als sollte es das Schlusswort sein. Er räusperte sich dezent und schaute auf seine Armbanduhr. »Natürlich können Sie mich jederzeit anrufen, Herr van Loren. Jetzt habe ich allerdings eine andere Verpflichtung.«
»Vielen Dank für das informative Gespräch«, antwortete Gerald und wollte dem Arzt dennoch nicht seine Schlussfrage ersparen. »Ich möchte Ihre Kollegialität nicht überstrapazieren, aber mich würde Ihre persönliche Meinung zu diesem Phänomen brennend interessieren.«
Dr. Wembler drehte sich zur Seite und schaute zum Besuchertisch. »Nun fühle ich mich doch wie beim Verhör«, sagte er und versuchte sich an einem Lächeln, das nicht überspielen konnte, wie unwohl sich der Gerichtsmediziner fühlte. »Es ist eine tückische Zwickmühle in meinen Augen. Ärzte sollen das menschliche Leiden lindern, das ist ihre Aufgabe. Und jedes menschliche Leiden verdient eine angemessene medizinische Betreuung, auch wenn es wie bei BIID unserem Menschenbild radikal widerspricht. Unter diesem Aspekt kann ich einen Chirurgen nicht verdammen, der nach einer gründlichen Untersuchung zur Überzeugung gelangt, dass ein Patient nur durch eine Amputation von seinem Leiden befreit werden kann. Auf der anderen Seite kann man nur hoffen, dass die Krankheit bald besser erforscht sein wird und Therapien gefunden werden, die den Wunsch nach einer Verstümmelung gleichsam einschläfern. Vielleicht handelt es sich ja tatsächlich um eine neurologische Abnormalität, die durch geeignete Medikamente therapierbar ist. Eine Amputation ist irreversibel, hingegen kann eine gute psychotherapeutische Behandlung die Lebensqualität so weit verbessern, dass man Zeit gewinnt, bis alternative Heilungsmethoden entwickelt werden. Deshalb ist auch diese Haltung – abgesehen davon, dass der Gesetzgeber ja erst eine rechtliche Klarheit für eine Amputation schaffen müsste – hundertprozentig zu akzeptieren. Es ist nicht eins zu eins vergleichbar, aber auch in den Fragen der aktiven und passiven Sterbehilfe muss das individuelle Ethos des behandelnden Mediziners die letzte Instanz sein. Er muss ab einem bestimmten Punkt das Recht besitzen zu handeln wie auch das Recht, eine bestimmte Behandlung nicht durchzuführen. Er darf nicht verpflichtet werden, die Apparate abzuschalten, wenn er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Aber er darf verpflichtet werden, seine Haltung transparent zu machen und den Patienten in der Konsequenz auch in die Behandlung eines Kollegen zu übergeben, der genau das tun würde, was er selbst verweigert.«
»Ich verstehe«, sagte Gerald zögerlich. Aber was er eigentlich meinte, war: Ich sehe, dass Sie nicht beantworten wollen oder können, wie Sie selbst sich als behandelnder Arzt verhalten würden.
Als hätte er die Gedanken seines Gesprächspartners gelesen, fuhr der Mediziner mit einem Seufzer der Erleichterung fort. »Kurzum, ich bin nicht unglücklich, zu einer Säge zu greifen, einen Leichnam zu öffnen, Organe zu entnehmen, Proben in Reagenzgläser zu legen und Maden, Würmer und Fliegen zu nähren. Das ist zwar bizarr in den Augen vieler, mir als Mediziner verleiht es jedoch einen Seelenfrieden, den ich als praktizierender Arzt nicht hätte.«
Unvermittelt stand er auf, fingerte in der Brusttasche seines Hemdes nach einer Visitenkarte und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Im nächsten Moment war er aus dem Zimmer verschwunden.
Gerald betrachtete erneut die Fotos, die Wembler ihm vor ein paar Tagen geschickt hatte. Nun konnte er ermessen, wie beschwerlich der Weg zu einer Operation für Alexander Faden gewesen sein musste. Wo hatte er sie durchführen lassen? Wie hatte er sie finanziert?
Du wirst sehen, sagte Gerald zu dem abwesenden Batzko, dass mich mein Instinkt nicht betrogen hat. Hier ist niemand aus freien Stücken in den
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