Die Narbe
Daumen der linken Hand gebildet hatte. »Hauptsache, ihr redet noch so miteinander?«
Franziska stöhnte auf. »Wir danken für deinen überaus sensiblen Diskussionsbeitrag, Lutz. Was wären wir nur ohne dich?«
»Lauter Nonnen und Mönche«, antwortete der Motorradfahrer und grinste angriffslustig in die Runde.
Dr. Chateaux hatte sich während Geralds Antwort Notizen gemacht. Nun wandte er sich ihm direkt zu. »Jeder darf in dieser Runde jeden alles fragen. Aber es gibt keinen Antwortzwang. Wollen Sie sich dazu äußern?«
Gerald schaute zu Boden und murmelte: »Wir haben auch auf diesem Gebiet ziemliche Probleme.«
»›Problem‹ ist der Name für etwas, das wir nicht als Bestandteil unseres Lebens akzeptieren wollen«, sagte der Therapeut. Und da war es wieder, dieses blitzschnelle Lächeln, mit dem er seine zitatreifen Aussprüche begleitete. »Damit isolieren wir nur das vermeintlich Negative und entwickeln Angst und Abwehr. Aber warum eigentlich? Probleme sind wie Regen – niemand mag ihn, und doch wächst nichts auf dieser Erde ohne ihn. Ohne Probleme gibt es keine persönliche Weiterentwicklung, keine Selbsterkenntnis, keinen Fortschritt. Es wird Zeit, uns die so genannten Probleme zu Freunden zu machen, uns ihrer Dynamik zu bedienen. Sie bewusst in unser Leben zu integrieren. Warum säßen wir sonst hier?«
»Integration ist ein gutes Stichwort«, sagte Lutz, drückte seinen kräftigen Rücken tiefer in die Stuhllehne und spreizte die Beine. »Ich hatte doch beim letzten Mal von der Frau erzählt, die ich neulich kennengelernt habe. Wir haben uns letzten Freitagabend wieder getroffen. Zuerst in einer Disco, dann sind wir zu mir gefahren. Sie ist noch verdammt jung, aber schon gut dressiert. Sie weiß, worauf Männer stehen.«
Lutz’ Macho-Attitüde hatte zur Folge, dass die übergewichtige Frau anfing zu weinen. Sie schluchzte auf, hielt das Taschentuch vor die Augen, dann kullerten die Tränen.
Arno nahm im selben Moment seine Brille ab und schloss die Augen. Nun sah er noch angegriffener aus als sonst. Doch das alles kümmerte Lutz offensichtlich wenig. Er erzählte, wie er seine neue Freundin in seine Wochenendbeziehung integrieren wollte. Dabei machte er mehrfach kleinere Pausen und schaute auffordernd in die Runde, aber niemand reagierte. Es schien die Übereinkunft zu herrschen, dass jede Zwischenfrage aus der Runde Lutz’ prahlerische Selbstdarstellung nur verlängern würde. Franziska beobachtete Arno. Sie schien zu wissen oder zumindest zu ahnen, was in ihm vorging. Plötzlich erhob sie sich von ihrem Platz, setzte sich neben ihn und legte den Arm um seine Schulter. Das irritierte Lutz sichtbar. Er betrachtete Franziska mit einem Blick, den Gerald erschreckend fand, weil sich in ihn nicht nur Wut, sondern auch Verlorenheit mischte, die ihn unangenehm berührte. Es passte nicht zu seiner stumpfen Bierzeltphilosophie.
Tatsächlich hatte ihm Franziskas Geste den Wind aus den Segeln genommen. Er setzte seine Unterleibsprahlereien fort, aber niemand beachtete ihn. Der Schweiger schwieg. Die übergewichtige Barbara nässte das dritte Taschentuch. Gerald schaute auf Franziska und Arno und verspürte einen heftigen Stich der Eifersucht. Während der letzten halben Stunde hatten sich seine und Franziskas Blicke mehrfach gekreuzt. Außerdem hoffte er, dass sie später noch ein Glas zusammen trinken würden. Der Gedanke, dass sie möglicherweise keine Zeit haben könnte, löste augenblicklich Gefühle der Verlassenheit in ihm aus.
Noch während Gerald seinen Gedanken nachhing, räusperte sich Arno. Er setzte seine Brille wieder auf, bewegte kaum wahrnehmbar seine Schulter, was Franziska zum Anlass nahm, ihre Hand zurückzuziehen.
»Ich finde es auffällig«, sagte sie, »dass immer dann, wenn sich jemand wirklich öffnen will, ein gewisser Teilnehmer aus unserer Gruppe den Holzhammer herausholt. Das ist extrem destruktiv.«
Chateaux hob den rechten Unterarm. Der Stift zeigte in die Höhe wie der Stock eines Dirigenten. »Wir wollten in dieser Gruppe keine Urteile formulieren, sondern persönliche Empfindungen. Außerdem haben wir uns verpflichtet, einen Teilnehmer nur mit seinem Namen anzureden bzw. ihn zu bezeichnen und nicht mit distanzierenden, abwertenden Platzhaltern wie ›jemand‹ oder ›ein gewisser‹ oder was auch immer. Jeder in der Gruppe hat das Recht auf eine direkte Reaktion und Konfrontation. Franziska, möchten Sie Lutz jetzt Ihre Empfindungen über sein Gruppenverhalten
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