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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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alles zu einem Kampf geworden, und hier scheint alles so leicht, fast schwerelos.
    »Sag mal«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Ist Lutz immer so wie in den letzten beiden Sitzungen? Ich warte nur darauf, dass er seine Hose runterzieht und uns sein Prachtstück zeigt. Außerdem habe ich den Verdacht, dass er sich absichtlich von seiner Freundin oder, genauer gesagt, von einer seiner Freundinnen abholen lässt, weil er glaubt, uns damit beeindrucken zu können.«
    »Den Eindruck hatte ich heute auch.«
    »Mir fehlt vielleicht die nötige Erfahrung und Distanz, aber ich kann einfach nicht von meinen Problemen erzählen, wenn so ein Typ neben mir sitzt und nur darauf wartet, andere in der Gruppe bloßzustellen. Und dazu noch mit der Vorgabe von Chateaux, dass ich meine Probleme ab heute Abend offenbar gar nicht mehr als ›Probleme‹ bezeichnen darf.«
    »Vielleicht will Chateaux ja eine Art Provokateur in der Gruppe. Man darf sich in ihm nicht täuschen. Er ist ziemlich gerissen, was solche Sachen betrifft, trotz seiner honigsüßen Stimme. Ist dir schon aufgefallen, dass er nie die Kontrolle verliert, dass er seine Linie konsequent durchzieht? Er ist ein erfahrener, effektiver Therapeut, das kannst du mir glauben, und ich habe schon eine kleine Weltreise auf diesem Gebiet hinter mir. Manche denken, so eine Gruppentherapie sei eine Art Whirlpool. Man sitzt dort und wird von allen bemitleidet und getröstet, und alle haben sich lieb. So ist es eben nicht. Chateaux will die Verteidigungslinien, die jeder um seine wahre Identität legt, durchbrechen, und da kommt ihm ein Prolo-Rammbock wie Lutz gar nicht mal ungelegen.«
    »Aber wenn ich mir Barbaras Reaktion anschaue …«
    Sie nickte. »Ich komme da auch an meine Toleranzgrenze. Barbara trägt ja im wahrsten Sinne des Wortes schwer an ihren Problemen. Ihr Mann zwingt sie, sich täglich zu wiegen. Wenn sie nicht abgenommen hat, muss sie vor ihm niederknien, und er sagt dann so was wie: ›Böses Mädchen, du hast wieder zu viel gegessen. Du musst mehr trinken; ich habe da etwas für dich, das hat ganz wenig Kalorien und viele Proteine und Nährstoffe.‹ Dann öffnet er seinen Reißverschluss … Muss ich weitersprechen?«
    »Danke. Kann es mir vorstellen.« Gerald nahm einen Schluck Whiskey. Er brannte in seiner Kehle. Normalerweise trank er nichts Hochprozentiges, weil er nicht riskieren wollte, die Selbstkontrolle zu verlieren. Nun spürte er, dass er hier und jetzt nichts dagegen hätte, wenn genau das geschähe.
    »Hatte eigentlich – wie hieß er noch gleich? – dieser Alexander Faden auch Schwierigkeiten mit Lutz?«
    Sofort veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ein tiefer Ernst legte sich über ihre Züge.
    »Alexander«, sagte sie langsam, »hatte so viele Schwierigkeiten mit sich selbst und seinem unmittelbaren Umfeld, dass ein Metzgertyp wie Lutz nur eine Randerscheinung war. Er litt unter schweren Depressionen, hatte sich völlig isoliert – bis zur Operation. Danach wurde er ein anderer Mensch. Als ob man einen Käfig aufmacht und plötzlich eine ganze Schar bunter Vögel herausfliegt, so hat er es einmal genannt.«
    »Ich habe in den letzten Tagen etwas über diese Krankheit gelesen, von der du mir erzählt hast.«
    »Dann wirst du auch gelesen haben, dass letztlich nur eine Operation Heilung, um nicht zu sagen Erlösung bringt. Alexander war am Ziel, nach vielen Jahren endlich am Ziel.«
    Gerald gab sich nicht überzeugt. »Ich weiß nicht. Wenn man sich alleine die beruflichen und sozialen Nachteile überlegt. Hast du nicht erwähnt, dass er Grafik-Design studierte?« Er stockte, weil er nicht mehr sicher war, ob sie oder Arno es tatsächlich in der Kneipe erwähnt hatten. Aber Franziska wirkte nicht irritiert, also fuhr er rasch fort. »Wie geht das, mit nur einem Arm? Wie kann man da gut zeichnen, Objekte und Modelle basteln? Wie fährt man Auto? Wie wickelt man ein Baby?«
    Sie lächelte mit der Wehmut einer Person, die in ihrer Gedankenwelt sehr weit entfernt ist. »Natürlich. Das sind Fragen, vollkommen berechtigte Fragen, aber es sind Fragen, die du dir stellst. Es sind die Fragen eines Außenstehenden. Ich weiß nicht, was du gelesen hast, aber wer an BIID erkrankt ist, empfindet das Leben vor der Operation als Qual. Die Alltagsprobleme danach mögen dir gravierend erscheinen, aber glaub mir, selbst für Alexander, der ein begnadeter Grafiker war, waren sie nicht einmal der Hauch eines Problems.«
    »Du siehst also keinen Grund für einen

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