Die Narbe
gegenüber zu erwähnen. Es hatte keinen Sinn, Öl ins Feuer zu gießen. Nach einem gemeinsamen Kaffee in der Küche badete er Severin und brachte ihn dann ins Schlafzimmer. Er legte sich neben ihn ins Bett und erzählte ihm etwas, keine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, er erzählte vielmehr einen Mischmasch aus seiner Arbeit, dem Wetter und den Tieren im Dschungel. Severin strahlte ihn an und versuchte mit allen Kräften, wach zu bleiben. Aber seine Lider wurden schwerer und schwerer. Drei-, viermal öffnete der Kleine noch die Augen und hielt den Daumen seines Vaters fest umschlossen. Dann schlief er endgültig ein.
Nele saß im Wohnzimmer, eine Art Gesundheitsknabberteller (Karotten, Gurken, Oliven, Käsestückchen, ein Klecks Joghurtdressing) auf dem Schoß.
»Hast du bemerkt, dass Sevi so viele Haare verloren hat?«, fragte sie.
Gerald senkte den Kopf, als hätte er einen Schlag auf den Nacken bekommen.
»Ich dachte, das wäre normal in der Phase. Wenn ich diesen bescheuerten Wachstumskalender in der Küche richtig gelesen habe, verlieren sie in dieser Phase den Flaum. Wenn hier jemand die Haare verliert, bin ich es, weil ich den Schwachsinn nicht länger aushalte, den du jeden Tag inszenierst.« Er schrie beinahe.
Sie zuckte zusammen, als fürchtete sie, dass das Baby aufwachen könnte. Aber die Tür zum Schlafzimmer war nur einen Spalt geöffnet; außerdem wachte Severin von Geräuschen in der Wohnung nicht auf.
Nele begann zu essen. Gerald hatte keinen Hunger. Die Wut auf Nele krampfte ihm den Magen zusammen, der Anblick der Rohkost auf ihrem Teller ließ sein Hungergefühl verstummen. Er stand, vielleicht zwei, drei Minuten lang, unschlüssig im Türrahmen, doch Nele beachtete ihn nicht, sah nicht von ihrem Teller auf. Schließlich sagte er: »Du weißt, ich habe an zwei Abenden in der Woche diese dienstliche Geschichte. Lange wird es aber nicht mehr dauern.«
Sie hörte auf zu kauen und sagte, ohne ihn anzuschauen: »Dann amüsiere dich mal schön bei deiner dienstlichen Geschichte. Ist sie wenigstens hübsch und nett?«
Gerald verließ die Wohnung. Grußlos.
Bis auf Dr. Chateaux saßen alle bereits auf ihren Stühlen, als Gerald den Raum betrat. Sie schwiegen, und die Luft schien ihm so schwer und drückend wie bei einem Trauergottesdienst. Instinktiv suchte er Franziskas Blick, und tatsächlich lächelte sie ihm zu. Es war ein schnelles, aber deutlich wahrnehmbares Lächeln, bevor sie wieder, wie die anderen, auf den Fußboden schaute. Es war ein Augenblick von Geborgenheit, den sie ihm schenkte, und Gerald wurde bewusst, wie oft er in den letzten Tagen an sie gedacht hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, waren es jene Momente gewesen, in denen er besonders frustriert von seinem Zusammenleben mit Nele war und sich nach einer Umarmung und Zärtlichkeit gesehnt hatte.
Lutz trug ein ärmelloses T-Shirt, das den Blick auf die farbigen Tätowierungen an beiden Oberarmen freigab. Die Hände waren zu Fäusten geballt und lagen auf den Oberschenkeln. In seiner nach vorne geschobenen Unterlippe zeigten sich Trotz und Kampfbereitschaft.
Arno sah angegriffen und übernächtigt aus, noch blasser und schmächtiger, als er von Natur aus schon war. Er schien gar nicht wahrzunehmen, dass Gerald das Zimmer betreten hatte, ebenso wenig wie die übergewichtige Frau, die in ihrer linken Hand ein zerknülltes Taschentuch hielt. Im Winkel ihrer Lippen klebte etwas, das wie Butter aussah, so als hätte sie in aller Eile vor der Sitzung noch ein belegtes Brot gegessen. Der Schweiger, dessen Vornamen Gerald vergessen hatte, schwieg. Beide trugen dieselbe Kleidung wie bei der vorigen Sitzung.
Dr. Chateaux kam herein, schloss die Tür und setzte sich auf seinen Platz. Er lächelte allen aufmunternd zu, verzichtete aber auf eine Begrüßung. Er war in seinem üblichen Stil gekleidet – weißes Hemd, Fliege und eine bunte Strickjacke –, die langen Haare zu zwei klassischen Mädchenzöpfen gebunden, die von schlichten Haushaltsgummis zusammengehalten wurden.
Niemand wollte das Gespräch eröffnen. Nur Lutz fragte, wann im Sommer Therapieferien sein würden. Er müsse in seiner Firma den Urlaub rechtzeitig beantragen. Chateaux antwortete, Lutz schob eine weitere Frage nach Formalitäten hinterher, die bei den anderen bald zu Unmutsäußerungen und Füßescharren führte. Ein lähmender Druck legte sich wie eine Käseglocke über die Gruppe. Es war offensichtlich, dass Lutz die banalen
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