Die Narbe
formalen Detailfragen auswalzte, um die Gruppe zu dominieren. Gleichzeitig zeigte niemand die Initiative, um Lutz zu stoppen.
Als der endlich schwieg, verteilte der Therapeut sein Dauerlächeln wie das Licht eines Leuchtturms in die Runde, aber niemand sagte etwas. Schließlich wandte er sich Gerald zu. »Wie geht es Ihnen? Wie haben Sie die vergangenen Tage erlebt?«
Gerald zeigte sich von der Direktheit der Frage überrascht. »Eigentlich wie immer«, begann er zögerlich, »das heißt, Nele und ich haben nicht viel miteinander geredet, jedenfalls nicht über das Organisatorische hinaus. Mir ist nach der ersten Therapiestunde bewusst geworden, dass wohl auch sie sehr unglücklich ist. Dennoch schaffen wir es nicht, darüber zu reden. Wahrscheinlich, weil wir zu schockiert darüber sind und uns auch im Grunde dafür schämen, so gestresst und gereizt zu sein, wo wir doch unser Wunschkind bekommen haben.«
»Du redest nicht mit deiner Partnerin und weißt doch, was sie denkt?«, fragte Franziska.
»Was?« Gerald musste im Geiste noch einmal die Frage wiederholen. Er war zu überrascht, dass Franziska ihn direkt angesprochen hatte, und anstatt sich auf ihre Frage zu konzentrieren, hatte er nur wahrgenommen, wie anziehend er sie fand. »Also, ich nehme es an. Ich vermute es einfach.«
»Ich will dich nicht angreifen«, sagte Franziska in einem ruhigen, freundlichen Tonfall. »Es ist nur – versteh mich bitte nicht falsch – ein sehr beliebter Anfängerfehler, dass wir Aussagen über unsere Gefühle mischen mit Hypothesen über die Gefühle und Gedanken von anderen. Das verwischt die Grenzen zwischen dir und ihr. Du erkennst weder deine eigene Position mit der nötigen Klarheit noch ihre. Vielleicht ist es ja gerade ein Grund für das Nicht-Sprechen zwischen euch, dass ihr zu wissen glaubt, wie der andere fühlt und denkt. Frag sie doch einfach mal.«
Der Therapeut kniff ein Auge zu. »Ein Fleißpunkt für meine Assistentin. Aber ich möchte noch etwas hinzufügen: Junge Familien stehen unter einer Art Glücksdiktat. Sie haben ein gesundes Kind zum gewünschten Zeitpunkt, leben in materiell gesicherten Verhältnissen und sehen sich plötzlich mit dem Druck konfrontiert, ihr Leben als Familienalbum präsentieren zu müssen. Sie müssen hundertmal am Tag ihren Eltern und Freunden bestätigen, in einem Dauerglück zu leben. Sie dürfen übermüdet sein, besorgt, auch mal gestresst, aber die Seele muss leuchten wie ein malerischer Sonnenaufgang. Das ist der äußere Druck – schlimm wird es nur, wenn die Partner sich selbst gegenseitig nicht von diesem Glücksdiktat befreien, wie mir das bei Ihnen der Fall zu sein scheint. Paare gehen durch ein tiefes Tal der Verunsicherung, die vertrauten Rollenverteilungen stehen auf dem Prüfstand, sie haben nur noch Minuten für sich, wo sie vorher Stunden hatten. Alle Aufmerksamkeit scheint absorbiert von diesem kleinen, schreienden Wesen zwischen ihnen. Frauen müssen die körperlichen Veränderungen einer Schwangerschaft und Geburt verarbeiten. Manche fühlen sich wie ein plötzlich um ein Jahrzehnt gealtertes Muttertier in der Herde und fürchten die Konkurrenz mit den jungen, agilen Weibchen. Weiß Ihre Frau eigentlich, dass Sie in eine Gruppentherapie eingestiegen sind?«
Gerald spürte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte und eine Hitze in ihm aufstieg, als hätte er Fieber. »Nein. Ich habe es nicht geschafft, ihr das mitzuteilen. Vorgestern Abend hatte ich es mir fest vorgenommen. Ich hatte im Badezimmer vor dem Spiegel die ersten Sätze eingeübt. Severin war schon im Bett, Nele hatte den Fernseher eingeschaltet und zappte sich durch die Programme. Wir kennen uns noch nicht einmal zwei Jahre, müssen Sie wissen. Das ist nicht viel, ich weiß. Am Anfang hat mich ihr Schwung mitgerissen. Sie war so hungrig auf das Leben, so direkt. Aber sie wollte bald ein Kind. Ich auch, obwohl ich offen gestanden lieber noch ein paar Jahre ohne irgendwelche Verpflichtungen mit ihr gelebt hätte. Aber als ich sie vor zwei Tagen ansah, erkannte ich sie nicht wieder. Ich meine, die Nele, in die ich mich verliebt hatte, war nicht die Frau, die dort saß. Diese Frau dort war eine Fremde, als hätte sie an meiner Wohnungstür geklingelt und sich dann ins Wohnzimmer gesetzt. Der Gedanke hat mich so deprimiert, dass ich, ohne ein Wort zu sagen, ins Bett gegangen bin.«
Lutz lachte hämisch, dann schob er den ausgestreckten rechten Zeigefinger durch den Ring, den er mit Zeigefinger und
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