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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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mitteilen?«
    Franziska biss sich auf die Lippen und schüttelte stumm den Kopf, wobei sie den Blickkontakt sowohl zum Therapeuten als auch zu Lutz vermied.
    »Ich habe am Wochenende mit meiner Frau gesprochen«, begann Arno, sehr langsam, die Augen zu Boden gerichtet. »Sie war am Boden zerstört und ist es eigentlich immer noch. Sie kann nichts essen, nichts trinken. Sie liegt nur im Bett und heult. Manchmal schlägt sie mit der Faust gegen die Wand, und in solchen Momenten wäre es mir fast lieber, sie würde mich schlagen. Sie wollte immer eine Familie, mindestens zwei Kinder, ein einfaches Haus mit Garten, ein ganz normales Leben eben. Aber wenn ich mich zu dem Schritt entschließe, wäre es kein normales Leben mehr. Ich will ich selbst sein, aber warum ist der Preis dafür so hoch? Es ist schrecklich, einfach nur schrecklich.«
    Arnos Stimme brach weg. Er nahm seine Brille wieder ab, rieb über die Lider. Jeder im Raum, bis auf Gerald, schien zu wissen, wovon er sprach, auch wenn niemand etwas sagte. Lediglich Lutz schüttelte den Kopf, trommelte mit den Fingerspitzen auf seine Oberschenkel und lächelte abschätzig.
    »Ihre Gefühle sind sehr gut nachzuvollziehen«, sagte Chateaux leise. Gerald fiel auf, dass die Stimme des Therapeuten ebenso streng und zurechtweisend klingen konnte wie auch sanft und empathisch. Das irritierte ihn, weil er die Person hinter dieser Stimme nicht wirklich greifen konnte. Seine Stimme war wie seine Art sich zu kleiden: eine Verbindung von maskulin und feminin, von förmlich und exaltiert. »Sie haben sich zu einem Schritt entschlossen, der Ihnen inneren Frieden bringen soll – und auch wird –, aber nun werden Sie mit der Tatsache konfrontiert, dass Sie Opfer werden bringen müssen. Große, vielleicht auch sehr große Opfer. Ich kann Ihnen aus meiner therapeutischen Erfahrung versichern, dass Sie diese erste Reaktion Ihrer Frau nicht überbewerten dürfen. Sie ist so extrem, weil Ihre Frau nichts anderes sieht als die einschneidenden und einschränkenden Veränderungen, mit denen sie fertigwerden muss. Sie stellt nicht den Wert Ihrer Beziehung in Frage. Nicht nur wir brauchen Geduld und Zeit, auch unsere Partner. Wenn Sie Ihrer Frau nur ein Zehntel der Zeit gewähren, die Sie für sich selbst gebraucht haben, dann empfinden Sie die augenblickliche Situation nicht mit dieser tragischen Absolutheit.«
    Chateaux räusperte sich und schaute auf die Uhr. »Oh! Ich sehe gerade, nun habe ich mit meinem Wort zum Sonntag doch tatsächlich auch das Schlusswort gesprochen. Wir haben bereits leicht überzogen. Bleiben Sie alle am Leben, zumindest bis Donnerstag.«
    Er lächelte sein Blitz-Lächeln, stand auf und ging in sein Sprechzimmer.
    Gerald fand sich plötzlich alleine auf dem Bürgersteig. Hans und Barbara waren, jeder für sich, Richtung Prinzregentenplatz gegangen, Franziska und Arno standen neben Arnos Wagen. Lutz wurde erwartet: Eine junge, üppige Frau in eng sitzenden Jeans und Lederjacke saß auf dem Motorrad. Sie rauchte und drehte gleichzeitig eine Zigarette, die sie Lutz reichte, nachdem er sie geküsst und dabei mit seinen Händen in ihren langen Haaren gewühlt hatte. Den Helm hängte er an diesem Abend an den Lenker. Er zündete seine Zigarette an, startete die Maschine, gab einige Male im Leerlauf Vollgas und fuhr mit seiner Eroberung davon.
    Franziska umarmte Arno. Er legte, wie unter dem Gewicht tiefer Müdigkeit, seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie streichelte über seinen Rücken und sagte etwas, das Gerald nicht verstehen konnte. Kurz darauf lösten sie sich voneinander, und Arno stieg in seinen Wagen.
    Gerald überquerte die Straße und wartete, bis Arno weggefahren war.
    »Kann ich dich mitnehmen, Franziska? Trinken wir noch etwas?«
    Sie nickte, schien aber mit den Gedanken noch bei Arno zu sein.
    Als sie sich wenige Minuten später der Gastwirtschaft näherten, sagte sie: »Hör zu, mir ist heute Abend nicht nach einer überfüllten Wirtschaft. Würdest du mich einfach nur ein Stück mitnehmen? Ich lade dich auch gerne zu mir ein, wenn du noch Zeit hast.«
    Sie nannte ihre Adresse. Während der Fahrt in Richtung Ostbahnhof schwiegen sie. Gerald spürte, dass er nervös wurde. Er hatte die Vorstellung, Franziska nach der Therapiestunde nicht mehr zu sehen, kaum ertragen können. Nun fühlte er sich dem Alleinsein mit ihr kaum gewachsen. Er hatte Angst vor sich selbst, Angst vor seinen Gefühlen für sie. Auch Franziska wirkte unruhig. Nach knapp zehn Minuten

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