Die Narbe
hatten sie ihr Ziel erreicht. Gerald fand jedoch zunächst keinen Parkplatz in der Nähe ihres Hauses in der Sedanstraße in Haidhausen und musste einmal um den ganzen Block fahren.
Die kleine Zweizimmerwohnung lag im vierten Stock. Das verwohnt wirkende Haus mit grauer Fassade hatte keinen Aufzug. Sie gingen nebeneinander die Treppe hoch, ihre Hände berührten sich mehrmals. Als sie vor der Wohnungstür standen und Franziska den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte, hielt sie für einen Moment inne, so als wollte sie Gerald bitten, doch besser wieder zu gehen. Aber dann öffnete sie die Tür.
Sobald Gerald sein Jackett in der Diele aufgehängt hatte, kroch der Geruch von Katzenfutter in seine Nase. Die Tür zur Küche, die zum Innenhof hin über einen winzigen Balkon verfügte, stand offen. Franziska ging hinein und schloss sie hinter sich. Dann hörte Gerald das Miauen einer Katze und Geräusche, die auf das Nachfüllen der Wasserschale und des Napfes mit Trockenfutter schließen ließen. Eigentlich war er es gewohnt, dass Bekannte mit Haustieren, deren Wohnung er zum ersten Mal betrat, dafür sorgten, dass sich der Hausgast und das Haustier beschnupperten. Nun stand er wie bestellt und nicht abgeholt in der Diele. Die Tür zum Abstellraum war halb geöffnet. Im Halbdunkel – es drang lediglich etwas Licht von der Küche und dem Wohnzimmer hinter ihm in die Diele – erkannte er die Umrisse eines Staubsaugers und etwas, das aussah wie eine Leiter. Er trat einen Schritt näher. Es war keine Leiter, es waren zwei Krücken, aus Holz mit einem Handgriff in der Mitte und einem länglichen Lederwulst an der Spitze, den man unter die Armbeuge schob. Zuerst dachte er an ein Theaterrequisit, an alte Filme, weil kein Mensch mehr mit diesen Apparaten herumlief, doch dann musste er plötzlich an Alexanders kunstvoll gearbeitete Narbe denken. Nein, bitte nicht, flüsterte er, bitte nicht.
Franziska schloss die Küchentür rasch hinter sich.
»Meine Katze ist unheimlich scheu. Wenn sie spürt, dass ich nicht alleine bin, verkriecht sie sich in der Küche. Ich mache lieber die Tür zu, damit sie sich sicher fühlen kann. Ich habe sie aus dem Tierheim geholt – weiß der Himmel, welche Erfahrungen sie mit Menschen gemacht hat.«
Sie ging vor ihm ins Wohnzimmer, einen kleinen Raum mit zwei Fenstern zur Sedanstraße, spärlich möbliert: einfache Bücherregale an den Wänden, eine Musikanlage, aber kein Fernseher, eine Vitrine mit Gläsern und Getränken, ein runder Tisch aus Holz, ein einfarbiges Sofa mit Stoffbezug und ein schwarzer Sessel, dessen Lederbezug deutliche Kratzspuren zeigte. Eine schlichte Studentenbude, im Gegensatz zu Alexander Fadens Wohnung. Er musste, dachte Gerald, als Grafiker nebenbei so manchen Euro verdient haben.
»Du bist Biertrinker, oder? Ich habe leider keines im Haus. Ich trinke vor dem Schlafengehen gerne einen Whiskey. Magst du auch einen?«
»Eigentlich gerne. Aber ich muss noch fahren.«
»Du musst wissen, ob es dir der Abend wert ist«, sagte sie und lächelte frivol.
Gerald gab ihr durch ein Handzeichen zu verstehen, dass sie ihm einschenken konnte. Sie trug eine hellblaue, kurzärmelige Bluse, die oberen zwei Knöpfe waren geöffnet. Ihre Schultern waren in Relation zu ihrer schlanken Gestalt gut ausgebildet, wie bei einer Schwimmerin. Sie war etwas größer und graziler als Nele. Und sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die er erregend fand.
Franziska schaltete das Deckenlicht im Wohnzimmer nicht an. Eine Glaskugel auf der Vitrine gab gerade so viel Helligkeit ab, dass er die Konturen ihres Gesichts klar erkennen konnte. Nichts in ihrem Gesicht war dominant, zu klein oder zu groß geraten. Es wirkte wie aus einem Guss, so wie sie selbst, dachte er. Und wieder stellte er, gleichsam gegen seinen Willen, einen Vergleich mit Nele an. Neles Gesicht war anders. Die kurzen Haare und dichten Augenbrauen verliehen ihm etwas leicht Maskulines, zumal ihr Mund eher schmal war. Deshalb hatte sie als junge Frau oft Angst gehabt, nur als Kumpeltyp wahrgenommen zu werden. Das war auch der Grund, warum sie, wie sie ihm einmal erzählte, auch viel Bestätigung von Männern gesucht hatte. Von mehr Männern, dachte er verbittert, als ihr letztlich gutgetan hatte. Und nun ist der einzige Mann, der ihr wirklich etwas zu bedeuten scheint, vier Monate alt.
»Zum Wohl!« Franziska hob ihr Glas und schaute Gerald dabei direkt in die Augen. Seltsam, dachte er in diesem Moment, bei Nele und mir ist
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