Die Narbe
Kinderarzt eingeschlossen.«
»Und den Vater des Kindes«, fügte sie hinzu.
Gerald beschloss, ihre Bemerkung zu überhören. »Das wird sich von selbst korrigieren, Mutter. Beim achten oder neunten Kind wird sie schon lockerer werden.«
»Ich weiß, dass es im Grunde nicht persönlich gemeint ist.« Ihre besorgte Stimme signalisierte, dass sein Versuch, das Gespräch in ein entspannteres Fahrwasser zu lenken, gescheitert war. »Zumindest hoffe ich es. Meine Freundinnen, die bereits Großmütter sind, machen letztlich dieselben Erfahrungen. Ihr lest ein halbes Dutzend Bücher über Schwangerschaft und Geburt, ihr besucht Vorbereitungskurse bei Hebammen und im Krankenhaus, als würdet ihr euch auf eine bemannte Raumfahrt vorbereiten. Aber ich habe den Eindruck, dass ihr euch dadurch nur darauf konzentriert, was man alles falsch machen kann. In meiner Generation hatten wir das Zutrauen, dass alles schon seinen Weg gehen würde. Ich habe mich einfach auf meinen Instinkt verlassen, aber den scheint ihr verloren zu haben. Deine Partnerin ist ja ein einziges Nervenbündel. Ich kann es kaum mit ansehen.«
»Es wird schon besser werden«, antwortete er und ärgerte sich erneut darüber, dass sie Neles Namen partout nicht aussprechen wollte.
»Und du? Wie gehst du damit um? Versteht ihr beide euch weiterhin gut?«
»Natürlich. Wie kommst du jetzt darauf, Mutter?«
Sie gab lange keinen Ton von sich. Gerald kannte das: Es handelte sich um ihre »Ich-glaube-dir-einfach-nicht«-Stille. Und die konterte Gerald mit derselben Waffe. Von seiner Seite handelte es sich um die »Mutter, das-geht-dich-nichts-an«-Stille.
»Kommt ihr am Sonntag vielleicht zum Essen?«, fragte sie nach gefühlten zehn Schweigeminuten. »Oder zum Kaffee, wenn es wegen des Stillens zu kompliziert sein sollte mit einem Mittagessen?«
»Ich weiß noch nicht, Mutter. Wir rufen dich an.«
»Gerald?« Ihr Tonfall hatte sich geändert. Das Aufgeregte war gewichen und hatte einer ernsten Anteilnahme Platz gemacht.
»Ich wollte dir, das heißt, euch anbieten … Sobald deine Lebensgefährtin abgestillt hat, könnte ich den kleinen Sevi gern für ein paar Tage zu mir nehmen. Ich traue mich nicht, ihr den Vorschlag zu machen. Aber dir sage ich es. Fahrt ein paar Tage weg. Erholt euch. Ich mache mir wirklich Sorgen um euch.«
Der Vorschlag traf ihn vollkommen unvorbereitet. Blitzartig erkannte er, dass seine Mutter ins Schwarze getroffen hatte. Es war das, was sie wirklich tun sollten, aber das konnte er seiner Mutter unmöglich eingestehen.
»Das ist nett von dir.« Er spürte, wie sich jetzt auch seine Stimme veränderte. »Ich muss los zu einer Besprechung. Wir telefonieren wieder. Tut mir leid, aber die Pflicht ruft.«
Von wegen Pflicht. Er hatte sich in die Formelhaftigkeit geflüchtet, aus Furcht, die Selbstkontrolle zu verlieren. Er wollte seiner Mutter nicht mitteilen, wie sehr ihn die Situation in seinen vier Wänden deprimierte. Und das Schlimmste daran war, dass er mit Nele nicht darüber reden konnte. Gerald stand auf und ging nervös im Zimmer auf und ab. Er konnte nicht nur mit Nele nicht reden, er konnte eigentlich mit keinem reden. Es gab niemanden, den er jetzt anrufen konnte, um ihm mitzuteilen, wie es ihm ging. Seine Arbeit und die Geburt von Severin hatten ihn in letzter Zeit so vereinnahmt, dass er seine Freunde vernachlässigt hatte. Und jetzt fehlte ihm der Mut, sich wieder bei ihnen zu melden.
An der Pinwand zuhause in der Diele hing eine Telefonliste aus dem Geburtsvorbereitungskurs für Paare; fünf Abende, die er anfangs aus Interesse und bald nur noch aus Pflichtgefühl absolviert hatte. Die anderen Teilnehmer waren zwar ganz nett gewesen, aber auch in den Pausen hatte sich alles nur um das Baby gedreht, als wäre die Schwangerschaft ein gemeinsamer biologischer Zustand. So war er, zu Neles Missfallen, in der Gruppe immer wortkarger geworden und hatte sich nach Severins Geburt vor weiteren Treffen gedrückt. Eine Stunde mit praktischen Tipps für das Wickeln, Baden und Fiebermessen hätte ihm vollkommen gereicht. Aber das durfte man heutzutage nicht laut sagen.
Franziska, dachte er plötzlich, mit ihr würde er reden können. Sie war warmherzig, unkompliziert, sie hatte ihn angelächelt. Wann hatte ihn Nele zuletzt mit dieser Offenheit angelächelt? Er wusste es nicht. Ebenso wenig wusste er, wann sie zuletzt miteinander geschlafen hatten.
7
Das ganze Wochenende dachte er an das Telefonat mit seiner Mutter, ohne es Nele
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